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Schlagloch. Erst kürzlich stellte der ADAC die Resultate zum Zustand des deutschen Straßennetzes vor.

© dpa

Vernachlässigte Infrastruktur: Wie marode ist Deutschland?

Der Verkehr wächst immer weiter, doch der Staat lässt die Infrastruktur vergammeln. Nach der Wahl soll alles besser werden – bezahlen müssen es vermutlich die Bürger.

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Von seinem Bürofenster aus hat Gorm Iver Gondesen, 53, einen guten Blick auf die Rader Hochbrücke. Auf Dutzenden schlanken Pfeilern spannt sich ihr grauer Beton über den Nord-Ostsee-Kanal, jeden Tag schlängeln sich darauf einige tausend Autos Richtung Flensburg. Gondesen sieht die Fahrzeuge, und wenn er das Fenster öffnet, hört er ihren Motorenlärm.

Seit ein paar Wochen schaut Gondesen aber nur noch ungern hinaus. Das liegt an der Brücke. Sie ist gesperrt für schwere Lkw, auch für seine. Gondesen besitzt eine Spedition mit 300 Beschäftigten in Osterrönfeld, einem 5000-Seelen-Nest nahe Rendsburg. „Unsere Leute müssen auf ihren Touren nun Umwege von bis zu 40 Kilometern fahren, um über den Kanal zu kommen“, erzählt er. Alternativrouten gibt es kaum. Das kostet. Die Kunden müssen länger auf ihre Waren warten. Und Gondesen muss mehr Diesel für die Lkw kaufen. „Zwischen 20 000 und 40 000 Euro im Monat zusätzlich“ kommen so zusammen, klagt er.

An der Rader Brücke, 49 Meter hoch, eröffnet 1972, bröckelt der Beton. Sie hat ein „Tragfähigkeitsdefizit“, sagen die Ingenieure, Bauarbeiter haben das bei Routinekontrollen eher zufällig entdeckt. Nun muss sie mindestens vier Monate lang saniert werden. Der Autoverkehr wird währenddessen über nur eine Spur je Richtung geschleust, schwere Lkw dürfen gar nicht auf die Brücke. Polizisten passen Tag und Nacht auf, dass sich die Transporteure auch daran halten. „Für die Unannehmlichkeiten entschuldigen wir uns“, haben die Leute von der Straßenbauverwaltung auf ein Schild am Fahrbahnrand geschrieben. „Aber wir wollen, dass Sie sicher an Ihr Ziel kommen.“

Rund 400 Baustellen auf Autobahnen in Deutschland

Das wollen auch Tausende von Autofahrern, die dieser Tage in den Urlaub aufbrechen oder wieder nach Hause kommen. Doch sie müssen sich gedulden. Mindestens 800 Staus bilden sich pro Tag deutschlandweit, in der Hauptreisezeit sind es mitunter doppelt so viele. Das liegt nicht nur an der Massenbewegung. Allein zwischen Hamburg und Berlin bremst derzeit ein knappes Dutzend Baustellen den Verkehr. Auf allen Autobahnen zusammen sind es rund 400, hat der Autoklub ADAC gezählt. Folge: Die Staumeldungen im Radio dauern oft länger als die Nachrichten.

Nicht nur die Straßen sind marode und müssen immer wieder geflickt werden. Deutschlands gesamte Infrastruktur gammelt vor sich hin. Die meisten Tunnel und Kanalschleusen sind älter als 100 Jahre, ebenso wie jede dritte der 27 000 Bahnbrücken. Sogar „unmittelbare Sicherheitsmängel“ diagnostizierte das Eisenbahn-Bundesamt bei einem Gutteil von ihnen. Zwei von zehn Autobahnkilometern und vier von zehn Bundesstraßenkilometern gelten als dringend reparaturbedürftig. „Der Wertverfall ist dramatisch“, mahnten unlängst Topmanager und Wirtschaftsverbände in einem Brandbrief an das Kanzleramt.

Wie konnte es nur so weit kommen? 20 Milliarden Euro flossen im vergangenen Jahr in die Verkehrswege – doch das Geld reichte vorne und hinten nicht. Seit jeher haben Fachminister, Bürgermeister und Wahlkreisabgeordnete mehr Freude daran, neue Autobahnabschnitte feierlich freizugeben und Spatenstiche für Ortsumgehungen zu setzen, als sich für einen neuen Straßenbelag stark zu machen. Dass aber jeder neue Meter Asphalt auch gepflegt werden muss, interessierte die Herrschaften nur am Rande. Und wenn der Finanzminister knapp bei Kasse war, traf es meist eher die Verkehrsinvestitionen als die Sozialtransfers. Holprige Straßen haben keine Wählerstimmen, unzufriedene Rentner dagegen schon.

Sinneswandel bei den Parteien?

Zwar sind die Investitionen des Staates seit 20 Jahren stabil – doch weil auch die Preise gestiegen sind, schmolz der reale Wert zugleich um 24 Prozent. Zudem hat der Personenverkehr im Zuge von Mauerfall und Globalisierung um ein Viertel zugenommen, der Güterverkehr hat sich verdreifacht. Immer mehr Lastwagen malträtieren die Straßen, jeder richtet so große Schäden an wie 40 000 Autos zusammen. Und der Verkehr soll noch dichter werden. Die Regierung rechnet mit mit 75 Prozent mehr Warentransport zwischen 2004 und 2025.

In den Wahlprogrammen demonstrieren die Parteien nun einen jähen Sinneswandel. Erhalt soll ab jetzt vor Neubau gehen, mehr Geld soll es auch geben. Gut eine Milliarde Euro mehr pro Jahr will die Union spendieren, zwei Milliarden die SPD. Den meisten Verkehrspolitikern genügt das nicht, sie wollen noch mehr. Eine Kommission der Länder-Verkehrsminister hat Ende 2012 eine Ausgabenlücke von 7,2 Milliarden Euro ausgemacht. Über anderthalb Jahrzehnte müsse dieser Betrag zusätzlich fließen, um die schlimmsten Schäden auszubessern, hieß es. Viele Quellen seien denkbar – mehr Geld aus dem Etat, eine Anhebung der Mineralöl- oder Kfz-Steuern, eine höhere Lkw-Maut oder eine Pkw-Maut.

Eine weitere Arbeitsgruppe um den Ex-Verkehrsminister Kurt Bodewig (SPD) ist nun dabei, die Ideen in praxistaugliche Vorschläge zu gießen. „Wir brauchen wahrscheinlich einen Mix an Finanzierungsinstrumenten, um mehr Geld für das System zu mobilisieren“, bekennt Bodewig. Einerseits müsse aus dem Haushalt mehr Geld fließen. „Andererseits sind auch neue Einnahme- Instrumente in der Debatte.“

Am 27. September, fünf Tage nach der Bundestagswahl, will Bodewig sein Konzept auf den Tisch legen. Er rechnet mit einem breiten Konsens. Das bedeutet: Der Plan hat gute Chancen, in den Koalitionsverhandlungen eine Rolle zu spielen – wer auch immer sie dann führt.

Doch schon jetzt sorgen die neuen Einnahmequellen, die Bodewig vorschweben, für Zündstoff. Vor allem die Maut. Sie sei Bedingung für jede künftige Koalition, ließ CSU-Chef Horst Seehofer wissen. Er strebt eine Vignette an. Womöglich ist es ihm ernst – womöglich baut er aber auch nur zusammen mit Verkehrsminister Peter Ramsauer eine Drohkulisse auf, um mehr Geld zu mobilisieren. Ramsauers Ministerium hat indes längst Maut-Konzepte entwickelt. Die Grünen können sich sogar eine umfangreiche Pkw-Maut vorstellen. Schließlich erheben bereits 14 europäische Staaten eine solche Gebühr, Frankreich nimmt damit fünf Milliarden Euro im Jahr ein. Acht weitere Länder kassieren per Vignette.

Pkw-Maut: Nicht für alle eine Lösung

Die SPD will aber von der Idee nichts wissen. „Eine zusätzliche Pkw-Maut, auch eine strecken- und schadstoffbezogene, ist sozial ungerecht, weil sie gerade diejenigen Pendler trifft, die aus beruflichen Gründen auf ihr Fahrzeug angewiesen sind“, wettert Florian Pronold, der Verkehrsmann in Peer Steinbrücks Schattenkabinett.

Die Sozialdemokraten haben gewichtige Mitstreiter. Für den ADAC mit seinen 18 Millionen Mitgliedern ist die Maut Teufelszeug. Der gelbe Klub hat dazu eigens eine Umfrage in Auftrag gegeben: Nur 28 Prozent der Deutschen befürworteten demnach die Maut. „Durchsichtige, populistische Abkassiermodelle“ hat Präsident Peter Meyer ausgemacht. Kay Lindemann, Geschäftsführer des Autoindustrie-Verbands VDA, steht an seiner Seite. „Warum kann man eigentlich nicht vom Staat erwarten, mit den vorhandenen Steuereinnahmen auf Rekordniveau auszukommen?“, fragt er.

Aber die Wünsche der Verkehrsleute gehen noch weiter. Sie wollen nicht nur mehr Geld, ihnen soll auch beim Ausgeben keiner reinreden – kein Parlament, kein Finanzminister. Denn so ist es bei der Lkw-Maut geschehen: Der Verkehrsetat wurde in dem Maße gerupft, wie die Mauteinnahmen stiegen. Die Mittel für den Verkehr sollen nun in einen Nebenhaushalt fließen, auf den das Parlament wenig Zugriff hat und der sogar kreditfähig ist. Der Vorteil: Geld für große Baustellen könnte permanent fließen, statt wie bisher Jahr für Jahr scheibchenweise von den Abgeordneten genehmigt werden zu müssen. Auf Baustellen könnte so schneller und billiger gearbeitet werden.

Doch die Verkehrsleute haben die Rechnung ohne die Kassenwarte gemacht. „Den Verkehrspolitikern traue ich keinen Tag über den Weg“, wehrt Norbert Barthle ab, Chef-Haushälter der Union im Bundestag. „Wir sind gerade dabei, einen schuldenfreien Haushalt zu zimmern – darum scheren sich die Kollegen aber überhaupt nicht.“

Staat baut am Bedarf vorbei

Damit trifft Barthle einen empfindlichen Punkt. Seit Jahrzehnten baut der Staat immer wieder am Bedarf vorbei: zu üppig, zu teuer, zu unnötig. Zur Prestigesucht der Politiker kam die Hoffnung auf Prosperität durch einen Anschluss ans Autobahnnetz. Doch der Plan ging oft nicht auf – wie bei der Ostseeautobahn A 20, auf die sich außerhalb der Ferien selten Autos verirren. Ähnlich ist es auf der A 38 zwischen Göttingen und Halle an der Saale, bei der das Verkehrsaufkommen weit unter den Prognosen bleibt. Doch sorglos geht es weiter: Aktuell will der Bund die A 14 von Schwerin bis Magdeburg verlängern – 180 Kilometer Schnellstraße für 1,3 Milliarden Euro.

Dabei stehen schon genug überdimensionierte Projekte in der Republik. In Kassel-Calden wurde ein neuer Flughafen gebaut, obwohl das 70 Kilometer entfernte Paderborn über einen prächtigen Airport verfügt. In Wilhelmshaven entstand ein Tiefwasserhafen für Containerschiffe, doch dort legt oft tagelang kein Schiff an. In Stuttgart verbuddelt die Deutsche Bahn ohne Not den Hauptbahnhof. Der Bundesrechnungshof fand heraus, dass bei 85 Prozent der Bundesprojekte nicht ausreichend die Wirtschaftlichkeit geprüft wurde.

Gorm Iver Gondesen, dem Spediteur nahe der Rader Hochbrücke, wird der ständige Stau jedenfalls bald zu teuer. „Es muss auf jeden Fall etwas passieren“, findet er und muss wieder an seine Zusatzkosten denke. „Die Sache mit dem Verkehr ist eine Bankrotterklärung. Das kann sich Deutschland nicht länger leisten.“

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