zum Hauptinhalt
Dass bei Wikileaks auch US-Depeschen mit einem für Israel wenig schmeichelhaften Inhalt zu finden sind, spielt in türkischen Medien bisher keine Rolle.

© Reuters

Verschwörungstheorien: In der Türkei wird Israel zum Wikileaks-Buhmann

Die Wikileaks-Enthüllungen "nützen Israel", sagt der türkische Innenminister. Die Türkei stürzt sich in einen beliebten Zeitvertreib – Verschwörungstheorien. Häufig wird Israel als Strippenzieher gesehen, aber auch die USA werden genannt.

Wer sich derzeit durch die allabendlichen Talkshows in türkischen Fernsehsendern zappt, der sieht erregt diskutierende Studiogäste und meistens ein groß eingeblendetes Wort: "Komplo" - Komplott. Kann wirklich alles mit rechten Dingen zugehen, was da seit Tagen auf die internationale Öffentlichkeit niederprasselt an Enthüllungen von Wikileaks? Für viele Türken steht fest, dass die Veröffentlichung amerikanischer Diplomatenpost einem schlau ausgedachten Plan folgt. Und etliche sind überzeugt, dass hinter all dem ein Staat steht: Israel.

Bülent Orakoglu, ein ehemaliger Chef der Geheimdienstabteilung der türkischen Polizei, gehört zu den Anhängern der Israel-These. In jüngster Zeit sei die Türkei dabei, sich im Nahen Osten zu einer Ordnungs- und Friedensmacht zu mausern, sagte er im Nachrichtensender NTV. Die Wikileaks-Depeschen seien nun Teil eines "finsteren Plans, diesem positiven Image der Türkei einen Schlag zu versetzen". Amerikanische Neo-Konservative und die Israelis hätten den Plan gemeinsam ausgeheckt.

Orakoglu steht mit solchen Ansichten nicht allein. Ali Bulac, ein führender Intellektueller des islamischen Lagers, sieht die jüdische Lobby in den USA hinter den Enthüllungen. Ziel sei es, den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan politisch zu erledigen, schrieb Bulac in der regierungsnahen Zeitung "Zaman". Laut Wikileaks hatten US-Diplomaten dem türkischen Premier vorgeworfen, in der Schweiz acht Bankkonten zu haben, was Erdogan vehement bestreitet. Warum sich die Amerikaner oder die Israelis aber die Mühe machen sollten, 250.000 Dokumente aus aller Welt zu veröffentlichen, nur um Erdogan fertigzumachen, erklärten weder Orakoglu noch Bulac.

Andeutungen von führenden Politikern

Aber das müssen sie ja auch nicht. Verschwörungstheorien leben vom Unbestimmten, Unbeweisbaren. Andeutungen genügen. Und die kommen in der Türkei auch von führenden Politikern. Sogar Staatspräsident Abdullah Gül, der eigentlich zu den kühleren Köpfen in Ankara gehört, spekulierte öffentlich über ein "Ziel" hinter den Veröffentlichungen. Um klarzumachen, was er meinte, fügte er hinzu, er sei mal gespannt, was über Israel so alles bei Wikileaks zu lesen sein werde.

Innenminister Besir Atalay wurde noch deutlicher: Israel sei der Nutznießer der Wikileaks-Enthüllungen, sagte er mit Blick auf Berichte, wonach selbst arabische Staaten bei den Amerikanern für einen Angriff auf den israelischen Erzfeind Iran plädiert haben. Hüseyin Celik, Vizechef der Regierungspartei AKP, merkte an, Israel freue sich über die US-Depeschen und nehme schon zu einigen Enthüllungen Stellung, noch bevor diese bei Wikileaks auftauchten.

Wie immer bei Komplott-Vorstellungen sagen die Theorien vor allem einiges über jene aus, die sie in die Welt setzen. Und das lässt für die Zukunft der türkisch-israelischen Beziehungen nichts Gutes erwarten. Seit dem israelischen Angriff auf die türkischen Gaza-Schiffe Ende Mai sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern und früheren engen Partnern in einer Dauerkrise. Ankara verlangt eine Entschuldigung für den Tod von neun Aktivisten an Bord des Gaza-Schiffes "Mavi Marmara", doch Israel will davon nichts wissen und argumentiert, die israelischen Soldaten hätten bei dem Schusswaffeneinsatz in Notwehr gehandelt. Wikileaks wird kaum zur Erholung der Beziehungen beitragen.

Dass bei Wikileaks auch US-Depeschen mit einem für Israel wenig schmeichelhaften Inhalt zu finden sind, spielt in türkischen Medien bisher keine Rolle. So stellten US-Diplomaten im Mai 2009 die Frage, ob der jüdische Staat ein "gelobtes Land für das organisierte Verbrechen" sei. Die Macht israelischer Verbrecherbanden reiche bis in die USA.

Vielleicht steckt also doch nicht Israel hinter Wikileaks? Erhan Basyurt, Kolumnist der Tageszeitung "Bugün" kam in einem am Donnerstag veröffentlichten Beitrag zu dem Ergebnis, dass innenpolitische Gegner der US-Demokraten von Präsident Barack Obama oder amerika-feindliche Staaten in der internationalen Arena als Urheber oder Helfer in Frage kämen. Es gebe aber auch die Möglichkeit, dass Wikileaks tatsächlich völlig unabhängig und allein gehandelt habe - aber diese Sicht der Dinge ist in der Türkei nicht sehr en vogue.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false