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Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer im Oktober 2015.

© Darrin Zammit Lupi/MOAS.EU/dpa

Vertragsverletzungsverfahren der EU: Hang zur Kraftmeierei

Die EU will Polen, Ungarn und Tschechien wegen ihrer Flüchtlingspolitik bestrafen. Sie fordert ein Mindestmaß an Solidarität, zeigt aber kein Augenmaß. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Der Zorn ist berechtigt. Er muss auch einmal Ausdruck finden. Empörend ist ja nicht nur der Mangel an Solidarität, der sich in der Weigerung Polens, Ungarns und Tschechiens ausdrückt, Flüchtlinge aufzunehmen, wie die EU das mehrheitlich beschlossen hat. Empörend ist auch der auftrumpfende Egoismus der Regierungen in Warschau, Budapest und Prag. Sie provozieren eine Abwehrhaltung der Nettozahler: Warum sollen die den Neuen im Osten noch die Fördermittel gönnen? Da geht gerade viel guter Wille in die Brüche. Das Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission ist die Folge.

Die Kommission verspricht, was sie nicht halten kann

Einen Hang zu Selbstgerechtigkeit und schädlicher Kraftmeierei darf man freilich auch der Kommission vorhalten. Rechtlich ist die Lage nicht so eindeutig, wie sie behauptet. In der Praxis wird sie die Ziele, die sie angeblich verfolgt, wohl kaum erreichen. Die Spaltung der EU aber wird sich durch ihr Vorgehen vertiefen.

Im September 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, hatte die EU mehrheitlich beschlossen, die beiden Haupteinreiseländer Griechenland und Italien zu entlasten und 160.000 Gestrandete auf andere EU-Staaten zu verteilen. Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien waren dagegen, wurden aber überstimmt. Polen hatte damals noch eine liberale Regierung, wies aber ebenfalls darauf hin, dass Kanzlerin Merkel einsam und ohne Abstimmung mit den Partnern entschieden hatte, Deutschland für Flüchtlinge zu öffnen. Die Zahl klang wie ein Witz angesichts der Erwartung, dass bis Ende 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge kommen würden. Aber nicht einmal die 160.000 wurden bis heute verteilt, sondern nur rund 20.000. Die EU erweist sich mal wieder als Großsprecher. Die Taten bleiben hinter den Worten zurück. Das Vertragsverletzungsverfahren dürfte diesen Eindruck aber weiter verstärken.

Die Rechtslage ist nicht so klar wie behauptet

Erstens haben Ungarn und die Slowakei beim Europäischen Gerichtshof geklagt. Sie bezweifeln, dass die EU Zwangszuweisung anordnen darf. Warum wartet die Kommission das Urteil nicht ab, das für Herbst erwartet wird? Sie stünde dumm da, wenn der EuGH den Klägern Recht gibt. Und warum wirft sie, zweitens, nur Polen, Tschechien und Ungarn Vertragsverletzung vor? Die meisten Länder haben ihre Quote nicht erfüllt, auch viele im Westen. In den beklagten Staaten wird man das als Spaltung in ein Europa erster und zweiter Klasse interpretieren.

Selbst, wenn man, drittens, annähme, dass der EuGH der Kommission Recht gibt und sie die Drei im Osten mit oder ohne Strafen für die Vertragsverletzung zwingt, Tausende Flüchtlinge aufzunehmen: Wie lange würden die wohl in Polen oder Ungarn bleiben? Sie würden sich von sich aus auf den Weg in reichere EU-Staaten wie Deutschland machen. Die EU wird weder willens noch in der Lage sein, sie daran zu hindern. Hat die Kommission bis zum Ende durchdacht, was sie erreichen kann?

Das politische Signal ist richtig: Solidarität ist keine Einbahnstraße

Ein politisches Signal ist gewiss überfällig. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer Fördergelder und andere Vorteile von der EU will, sollte ein Mindestmaß an Loyalität gegenüber den Partnern zeigen. Die Kommission und mächtige Länder wie Deutschland sollten umgekehrt mehr Augenmaß beweisen.

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