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Politik: Vertrauen ist ein scheues Reh

Von Robert Birnbaum

Zu den wenigen Gewissheiten im Politikbetrieb unserer Zeit gehört die, dass es kaum mehr Gewissheiten gibt. Wer hätte zum Beispiel vor, sagen wir, zwei Monaten an der Politbörse Aktien der Union für eine gute Wertanlage gehalten? CDU und CSU hätten sich selbst ja kaum eine Kaufempfehlung zugetraut. Stattgefunden hat der Boom trotzdem. Ausgelöst haben ihn größtenteils Faktoren, die vor zwei Monaten niemand auf der Rechnung gehabt hat. CDU und CSU wissen sie ja selbst noch kaum zu erklären. Das unerwartet gute Wahlergebnis in SchleswigHolstein, erwartbare Arbeitslosenrekorde, die ganz unerwartet erschütternde Wirkung der Visa-Affäre auf Joschka Fischer, das einzige Kabinettsmitglied, an dem bisher alle Angriffe abzuprallen schienen – eine unübersichtliche Melange von Gründen und Anlässen ist zusammengekommen. In der Summe sorgen sie dafür, dass in der Union nach längerer Depression auf einmal gute Laune herrscht.

Das ist schon mal was. Das ist sogar genau besehen ziemlich viel. Nicht ganz zufällig ähnelt das Geschehen in der Politik auch rein äußerlich immer mehr dem an der Börse, inklusive der täglichen Aktienkurve in Gestalt von Sonntagsfragedaten und Beliebtheitsskalen. Und so wie am Aktienmarkt Stimmungen, Gerüchte, Mutmaßungen kurzfristig den Kurs steigen oder fallen lassen können, so hängt es im Politischen ganz wesentlich von Stimmungen ab, ob aus ein und derselben Ausgangslage ein Boom oder eine Baisse wird. Wie anders als mit plötzlicher Verunsicherung von SPD und Grünen einerseits und einem neuen Optimismus der CDU andererseits wäre denn ein Wahlergebnis wie das in Schleswig-Holstein überhaupt erklärbar?

Nun lässt sich, an der Börse wie in der Politik, gute Laune für die eigene Sache nur sehr begrenzt künstlich erzeugen. Auf den ersten Blick könnte die Lehre für die Union aus den letzten Tagen und Wochen daher lauten: Wir können uns aufführen, zanken und aufstellen wie wir wollen, am Ende ist alles eine Glücksfrage. Aber so ist es natürlich nicht. Auch Aktienkurse sind Zufallsprodukte nur für den Tag; über einen längeren Zeitraum betrachtet spiegeln sie schon Fundamentaldaten ihrer Firmen wider.

Die Union wird also einiges dafür tun müssen, sich ihre gute Laune und den damit verbundenen Wählerzuspruch bis zur nächsten, weitaus folgenschwereren Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu erhalten. Sie darf sich zum Beispiel keine Scharmützel im Oppositionslager leisten. Wenn CSU-Chef Edmund Stoiber und FDP-Chef Guido Westerwelle sich gegenseitig Wahlniederlagen in die Schuhe schieben, führt das zu weiter nichts als der nächsten Niederlage, die sie dann immerhin gemeinschaftlich verantworten dürfen. Wenn es für CDU und CSU, ja für die gesamte bürgerliche Opposition ein strategisch wichtiges Ziel für die nächsten Wochen und Monate gibt, ist es Geschlossenheit. Insbesondere gelegentlich Geschlossenheit des Mundes.

Die zweite Gefahr lauert nämlich dort, wo der gute Mut in Übermut umschlägt. In der Visa-Affäre zum Beispiel haben CDU und CSU es bisher alles in allem geschafft, einen kühlen Tonfall zu bewahren und sich nicht in eine Hetzjagd hineinzusteigern, bei der den Jägern vor lauter Gebrüll schneller die Luft ausgeht als den Gejagten. Das dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass ein vermeintlich Unangreifbarer wie Joschka Fischer auf einmal Schwächen zeigt und die SPD Nerven, zumal die in Nordrhein-Westfalen. Umso größer ist die Versuchung für die CDU, zumal die in Nordrhein-Westfalen, zum großen Halali zu blasen. Sie kann aber vom CSU-General Markus Söder lernen, dass allzu viel Pulver im Rohr nicht den politischen Gegner trifft, sondern nur den Rückschlag erhöht.

Widersteht die Union der Versuchung zum Überschwang, hat sie eine unerwartet gute Ausgangsbasis für die nächste, die vielleicht vorentscheidende Entscheidung. Um es noch einmal in Anlehnung an die Börsensprache zu sagen: Die Kursprognose für die CDU-AG fällt derzeit günstiger aus als für die Konkurrenz von der SPD. Die Union kann sich eine souveräne Selbstgewissheit leisten. Siegesgewissheit besser nicht.

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