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Dies ist nur eine Übung. Doch bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr sind bereits viele Soldaten so schwer verletzt worden, dass sie ihren Dienst nicht wieder antreten konnten.

© picture-alliance/ dpa

Afghanistan-Einsatz: Veteran erstreitet Hilfe für verwundete Soldaten

Das Land schickt seine Soldaten in gefährliche Einsätze. Aber was tut es für sie, wenn sie Hilfe brauchen? Robert Sedlatzek-Müller kehrte traumatisiert aus Afghanistan heim. Lange kämpfte er um seine Versorgung und erstritt ein neues Gesetz.

Die Straßen sind noch leer, um kurz nach sechs Uhr morgens. Sie kommen gut voran, die zwei Männer in ihrem Auto, beide trinken Kaffee, den sie in einer Hamburger Bäckerei gekauft haben. Tief schwarz und mit viel Zucker, wie immer.

Auf der Autobahn 24 passieren sie Ludwigslust, Herzsprung, Kremmen. Das Navigationsgerät zeigt die Route an, Sedlatzek-Müller schaut selten darauf, die Strecke nach Berlin kennt er mittlerweile auswendig, so oft war er in den vergangenen Monaten in der Hauptstadt, bei parlamentarischen Abenden, Debatten im Bundestag und Gesprächen im Verteidigungsministerium. Immer wieder ging er auf Politiker zu, fragte, ob es Fortschritte bei einem Gesetz gebe, das ihn betrifft. Er kämpfte, denn das kann er, für Änderungen. An diesem Tag, es ist Freitag vergangener Woche, soll dieser Kampf nun enden.

„Euch zeige ich es heute“, hatte er sich vor dem Spiegel gesagt, bevor er die Wohnung verlassen hatte. Er hatte müde ausgesehen, aber entschlossen.

Der Tag hatte für ihn in tiefer Dunkelheit begonnen. Er war auf Zehenspitzen durch seine Wohnung im niedersächsischen Stade geschlichen. Leise hatte er sich angezogen, um seine Frau und die fünf Monate alte Tochter nicht zu wecken. Hatte seine alten, schweren, schwarzen Lederstiefel zugeschnürt, dieselben, in denen er die Explosion einer Rakete bei Kabul überlebt hat. Sie sollen ihm helfen, auch diesen Tag zu überstehen.

An einer U-Bahn-Station in Hamburg stieg ein enger Freund in sein Auto. Gemeinsam brachen sie nach Berlin auf, noch 350 Kilometer, um dabei zu sein, wenn im Bundestag ein Gesetz verabschiedet wird, das ihr Leben grundlegend verändern soll.

Die beiden Männer ähneln einander. Sie sind hager, ihre Wangenknochen geben den Gesichtern etwas Hartes, sie tragen einen Bart. Gemeinsam waren sie bei den Fallschirmjägern. Und sie standen nebeneinander, als vor ihnen eine Rakete explodierte. Nun versuchen sie, einander Halt zu geben, in einem Leben, das durch die Rakete, durch den Krieg aus den Fugen geraten ist. „Ich habe ein Geschenk für dich“, sagt Sedlatzek-Müller zu seinem Kameraden. Er überreicht ihm ein kleines, eingeschweißtes Paket. Der Freund reißt es auf, darin liegt ein Armband aus Stoff mit einer Metallplakette. „Wounded Soldiers Project“ steht darauf. Sedlatzek-Müller hat es in den USA bestellt. Er trägt das gleiche Band. „Danke, vielen Dank“, sagt der Freund und legt das Armband sofort um.

Seine Hoffnung setzt Sedlatzek-Müller, der ehemalige Soldat der Division Spezielle Operationen, Einzelkämpfer, Hundeführer, Fallschirmspringer, auf ein Gesetz, für das er und andere an Körper und Seele verwundete Veteranen lange gekämpft haben: Das Einsatz-Versorgungs-Verbesserungsgesetz sieht Entschädigungszahlungen, Renten und eine Weiterbeschäftigung vor, für bei Auslandsmissionen verwundete Soldaten. Ein erstes Gesetz zur besseren Versorgung beschloss der Bundestag bereits 2004 – doch er versah es mit einer Stichtagsregelung. Wer wie Sedlatzek-Müller vor dem 1. Dezember 2002 verwundet wurde, ging leer aus. Und Sedlatzek-Müller wurde wegen Unbrauchbarkeit sogar entlassen. Diese Ungerechtigkeit wollte er, konnte er nicht akzeptieren. Und wie sein Handy nun piept, fast pausenlos kurze Nachrichten empfängt, sagt es auch, dass er nicht allein ist. Freunde und Mitstreiter schicken ihm Grüße, wünschen ihm Glück.

Was tut der Staat für seine Soldaten, wenn sie Hilfe benötigen? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Dass Sedlatzek-Müller den Kampf überhaupt hat aufnehmen müssen, sagt viel über das Verhältnis der Deutschen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Die Soldaten werden in gefährliche Einsätze geschickt. Sie sollen ihre Instinkte und persönlichen Bedürfnisse unterdrücken. Man soll sich auf sie verlassen können. Aber was tut der Staat für seine Soldaten, wenn sie Hilfe benötigen? Worauf können sie sich verlassen?

Bislang vor allem auf einen Stichtag. Der soll mit dem neuen Gesetz wegfallen. Für Fallschirmjäger Sedlatzek-Müller könnte das eine Wiedereinstellung bei der Armee bedeuten. Er bekäme wieder Sold, kostenlose medizinische Versorgung und die Chance für einen Neuanfang.

Zügig fährt er durch Berlin, seine Mitstreiter fragen am Telefon, wo er bleibt. Die Veteranen sind aufgeregt, sechs von ihnen dürfen auf die Zuschauertribüne, Sedlatzek-Müller hat die Besucherkarten besorgt. Vor dem Nordeingang des Reichstagsgebäudes warten Kamerateams. Die Tagesschau wird über ihn berichten, der Bayerische Rundfunk dreht eine Dokumentation. Er hat dem Kampf der Veteranen ein Gesicht gegeben. Der frühere Soldat hat den Journalisten erzählt, dass er oft nur mit Alkohol einschlafen könne, dass er an Selbstmord gedacht habe. „Ich habe die Privatsphäre aufgegeben, aber ohne Öffentlichkeit geht es nicht“, sagt er. Erst nach kritischen Medienberichten über das Leid der kranken Veteranen habe die Politik reagiert.

Noch streiten unten im Plenarsaal die Finanz- und Wirtschaftspolitiker über Währungsfragen. Sedlatzek-Müller hört ihnen nicht zu von der Zuschauertribüne aus. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ringe ab, Male der Schlaflosigkeit. Dann zeigt eine Tafel Top 31 an: „Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen“. Der erste Redner geht zum Pult. „Jetzt geht es los“, flüstert Sedlatzek-Müller, beugt sich vor und legt die gefalteten Hände in seinen Schoß.

Henning Otte von der CDU spricht über die Lücken in den Gesetzen, sagt, dass der neue Slogan des Verteidigungsministeriums „Wir dienen Deutschland“ keine Einbahnstraße sein dürfe, dass Deutschland seinen Soldaten etwas schuldig sei. Sedlatzek-Müller atmet laut aus. Was der Politiker unten im Plenarsaal umreißt, hat er selber erfahren.

Das Einsatzweiterverwendungsgesetz aus dem Jahr 2007 legte fest, dass im Dienst versehrte Soldaten nicht aus der Bundeswehr entlassen werden dürfen, wenn sie einen Grad der Wehrdienstbeschädigung von 50 Prozent oder mehr aufweisen. Sedlatzek-Müller bescheinigten die Ärzte 40 Prozent. Obwohl er sich wegen einer psychischen Erkrankung, Tinnitus und seiner Nesselsucht nicht mehr konzentrieren konnte, er aggressiv und depressiv wurde, ihm die Kontrolle über sein Leben entglitt.

Noch heute streitet er mit der Bundeswehr über die Schwere seiner Erkrankung. Gutachten und Gegengutachten werden erstellt. Ständig untersuchen ihn Ärzte, die er nie zuvor gesehen hat. Vergangenes Jahr entließ ihn die Bundeswehr dann, krank, ohne abgeschlossene Therapie. Er fühlt sich verraten.

45 von 620 Parlamentarieren nehmen an der Debatte teil. Lesen Sie weiter auf Seite 3.

Nun blickt Sedlatzek-Müller auf leere blaue Stühle. Viele Parlamentarier sind am Freitagmittag schon in ihre Wahlkreise aufgebrochen. Sieben Abgeordnete der Linkspartei harren im Plenarsaal aus, sechs der SPD, vier der Grünen, 20 der Union und acht der FDP. 45 Parlamentarier von 620, ein wenig mehr Interesse hätte Sedlatzek-Müller sich gewünscht. Er schaut wieder zum Redner. „Wir stehen hinter unseren Soldaten“, sagt Otte und macht das Pult frei für Lars Klingbeil von der SPD. „Das ist heute ein guter Tag“, sagt der Sozialdemokrat. Es sei ein langer Weg gewesen, bis nun das neue Gesetz verabschiedet werden könne.

Es sind Sätze, wie sie Politiker sagen. Zugleich engagiert und nüchtern. Jahrelang haben Sedlatzek-Müller und seine Mitstreiter für solche Sätze gekämpft. Mit anderen Betroffenen gründete er die Selbsthilfeorganisationen Deutsche Kriegsopferfürsorge und den Bund Deutscher Veteranen (BDV). Aber wie viel von dem, was sie erlebt haben, passt in einen Politikersatz? Nun scheint Müller-Sedlatzek mehr in sich hineinzublicken als zuzuhören. Vor allem, als Elke Hoff von den Liberalen den Fall eines traumatisierten Soldaten schildert, der nicht mehr in Supermärkten einkaufen kann, weil er den Anblick von rohem Fleisch nicht erträgt.

Sedlatzek-Müller hat selbst schon zu viel Blut, zu viele Wunden gesehen. Am 6. März 2002 fuhr er mit dem Freund vom Camp Warehouse, dem Feldlager in Kabul, zum Stadtrand. Sprengmeister der Bundeswehr sollten dort eine Rakete entschärfen. Der Fallschirmjäger wollte zusehen und prüfen, ob er am Entschärfungsplatz mit seinem Diensthund Idor trainieren könnte, den er zur Sprengstoffsuche abrichtete. In einer Grube schlug ein Sprengmeister mit Hammer und Meißel auf die Rakete ein.

Sedlatzek-Müller dachte noch, die Entschärfer seien verrückt, so auf die Rakete einzudreschen. Dann war um ihn herum nur noch grelles Licht und Schmerz. Die Rakete explodierte, die Druckwelle riss ihn um, zerfetzte sein Trommelfell. Verletzt lag Sedlatzek-Müller auf dem Boden. Neben ihm kämpften Sanitäter um das Leben eines Schwerstverletzten. Dessen Bauchdecke war aufgerissen, seine Gedärme waren zu sehen. Solche Bilder haben sich in Sedlatzek-Müllers Gedächtnis eingebrannt. Drei dänische und zwei deutsche Soldaten starben damals.

Worte wie Fürsorge, Verpflichtung, Solidarität hat Sedlatzek-Müller oft gehört, seitdem ihn die Bundeswehrärzte wieder zusammengeflickt hatten. Die Wunden heilten, die Narben werden irgendwann verblassen, sagte sich Sedlatzek-Müller. Er wollte zurück nach Afghanistan zu seinen Kameraden und zum Diensthund. 2003 und 2005 brach er erneut nach Kabul auf.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Sedlatzek-Müller die Entscheidung der Abgeordneten aufnimmt.

Er konnte verdrängen, dass er krank war. Das macht ein Trauma für viele nicht zu einer richtigen Krankheit. Auch Sedlatzek-Müller ignorierte, dass er aggressiver wurde, immer mehr Alkohol trank, dass er mit dem Auto raste. Spät gestand sich der Elitesoldat ein, dass er Probleme hat, die er nicht allein bewältigen kann. Er ging zum Truppenarzt. Er habe PTBS, eröffnete ihm der Mediziner. Sedlatzek-Müller konnte mit diesen vier Buchstaben zunächst nichts anfangen.

PTBS steht für Posttraumatische Belastungsstörung, eine psychische Krankheit. Für Sedlatzek-Müller bedeutet es, dass sein Krieg nie endet. Er erlebt in den sogenannten Flashbacks die schlimmsten Momente seiner Auslandseinsätze wieder und immer wieder. Die Grenze zwischen Realität und Erinnerung verwischt. Sein Körper schüttet Adrenalin aus. Die Muskeln verkrampfen. Bilder rasen durch seinem Kopf. Die Razzia im Kosovo, Leichen in Massengräbern, seine Eindrücke aus Afghanistan, die flimmernde Luft über kargem Land, die Grube bei Kabul, der Sprengmeister, der Hammer, der Meißel. Von Narben im Kopf, spricht Sedlatzek-Müller.

Es sind Narben, die nicht von allein heilen und verwachsen. Vor einigen Wochen hat er mit einer Therapie begonnen. Noch läuft die Stabilisierungsphase, sein Patient müsse zur Ruhe kommen, mahnt der Arzt. Der Kampf um das Gesetz und seine Zukunftssorgen haben Sedlatzek-Müller stark beschäftigt in den vergangenen Monaten. Im Mai hat er an einer Bundeswehrfachschule seine Erzieher-Ausbildung abgeschlossen – wegen seiner PTBS kann er diesen Beruf aber nicht ausüben. Nun macht er ein Praktikum beim BDV, das die Bundeswehr finanziert. Danach hätte ihm Hartz-IV gedroht – es sei denn, das Einsatz-Versorgungs-Verbesserungsgesetz erkennt auch ihn an.

Angespannt lehnt er sich auf der Zuschauertribüne nach vorne, als zur Abstimmung aufgerufen wird. Einstimmig wird das Gesetz angenommen. Die Politiker stehen von ihren Stühlen auf, klatschen Beifall. Sedlatzek-Müllers Gesicht zeigt keine Regung. Seine Freunde klopfen ihm auf die Schulter, gratulieren ihm und sich. Aber er sieht aus, als wäre er einen Marathon gelaufen. Seine Wangen sind noch eingefallener und blasser. Der Freund sagt zu ihm, dass die Bundeswehr nun erntet, was sie gesät habe, schließlich hätten die Fallschirmjäger gelernt, die Zähne zusammenzubeißen und immer weiterzumachen. Da grinst Sedlatzek-Müller. Zum ersten Mal.

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