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Politik: Vielleicht haben wir die falsche Lehre aus Weimar gezogen (Kommentar)

Die kämpferische Entschlossenheit, mit der Helmut Kohl sein Verhalten noch immer rechtfertigt, verschlägt einem den Atem. Sie bietet aber auch eine Chance: das politisch-kulturelle "Unterfutter" unserer Demokratie genauer zu erkunden.

Die kämpferische Entschlossenheit, mit der Helmut Kohl sein Verhalten noch immer rechtfertigt, verschlägt einem den Atem. Sie bietet aber auch eine Chance: das politisch-kulturelle "Unterfutter" unserer Demokratie genauer zu erkunden. Ob Kohl es gelingt, Teile der deutschen Gesellschaft und ihrer Eliten für sich zu mobiliseren, daran wird man ermessen können, wie tief die Demokratie bei uns wirklich verankert ist. Denn demokratische Reife verlangt, im öffentlichen Leben die demokratische über die persönliche Loyalität zu stellen.

Quantitative Einstellungsforschungen haben über die Jahre hinweg eine stetig wachsende Zustimmung der Deutschen zur Demokratie festgestellt. Freilich gab es nach 1989 erneut Zweifel, wie solide diese in Krisen verankert ist. Denn diese Untersuchungen erreichen nicht die tiefer liegenden Mentalitäten und Motive solcher Zustimmung. Die qualitative Forschung, die diese Dimension eher erreicht, kommt wiederum nie zu repräsentativen Ergebnissen. Genau wissen wir also nicht, wie es um das "Unterfutter" unserer Demokratie bestellt ist. Freilich deuten Resultate der qualitativen Forschung an, dass alte Mentalitäten unter der Decke "demokratischer" Einstellungen zäh fortleben. Man konnte und kann zum Beispiel auch in einer demokratischen Partei ein undemokratisches Ehrverständnis fortsetzen.

Die Funktionstüchtigkeit von demokratischen Institutionen, auf die wir alle bauen müssen, hängt von ihrer Glaubwürdigkeit ab, und die erwächst letztlich aus dem vertrauenswürdigen Verhalten ihrer Repräsentanten. Wenn nun ein so rasanter Glaubwürdigkeitsverlust von CDU-Repräsentanten geschieht, so steht zu vermuten, dass er sich nicht im luftleeren Raum abspielt. Viel spricht dafür, dass ein erheblicher Teil unserer Eliten von der gegenwärtigen Heuchelei keineswegs frei ist und auch die demokratischen Maßstäbe nicht klar verinnerlicht hat.

Schaut man im Übrigen das Verhalten deutscher Eliten vor und nach 1945 an, dann begegnet einem eine solche Fähigkeit zur Mimikry und Verdrängung, dass man sich über Kontinuitäten derartigen Verhaltens in nachfolgenden Generationen nicht wundern kann. Da stimmen honorige Vertreter der Hamburger Industrie- und Handelskammer Helmut Kohl lebhaft zu, wenn er sein antidemokratisches Ehrverständnis gegen die "öffentliche Kritik" ins Feld führt. Da spenden Christdemokraten in Bremen Kohl heftig Beifall, was eine nachdenkliche Teilnehmerin zu der Beobachtung veranlasst: "Wenn die Masse klatscht, dann klatschen alle mit."

Wer im Alltag sensibel hinhört, erlebt allenthalben, wenn nicht Zynismus, so doch eine erhebliche Resignation gegenüber der Möglichkeit, einigermaßen anständig zu bleiben. Daraus folgt oft eine Tendenz, die moralischen Anforderungen niedriger zu hängen, damit man sich weiterhin als moralisches Subjekt betrachten kann. In Deutschland (aber nicht nur dort) begünstigen zwei Regimewechsel diese Tendenz.

Oft rümpfen wir in Deutschland die Nase über die Naivität der US-Amerikaner, in deren Politik ein Korruptionsfall nach dem anderen aufgedeckt wird und die doch unverdrossen öffentlich ihre demokratischen Werte hochhalten - so als könnten sie daraus nichts lernen über die Verderbtheit der menschlichen Natur. Aber vielleicht lernen sie, indem sie weiter scheinbar naiv ihre Werte proklamieren, das Richtige: nämlich die Kluft zwischen den Werten und der Wirklichkeit nicht einzuebnen, sondern auszuhalten und immer erneut auf die Einhaltung der Werte zu hoffen. So verwehrt man dem Zynismus durch den öffentlichen Idealismus, der viele Europäern unerträglich naiv anmutet, seine öffentliche Zulässigkeit. Vielleicht haben wir die falsche Lektion gelernt, wenn wir, mit Blick auf Weimar, immer wieder unterstreichen, dass man an die Demokratie nicht zu hohe moralische Anforderungen stellen dürfe, um die Bürger vor Enttäuschungen zu bewahren. Vielleicht bekräftigen wir die falsche Lektion, wenn wir die Erinnerung daran, dass Demokratie nicht nur auf gute Institutionen, sondern auch auf moralisches Verhalten angewiesen ist, als erfolglose Moralisiererei abtun. Vielleicht müssen wir stattdessen lernen, dass die Demokratie trotz unserer Fehlbarkeit, ja ihretwegen, erhebliche Ansprüche an uns stellt und wir sie verspielen können, wenn wir uns desillusioniert darauf zurückziehen, dass die menschliche Natur nun einmal korrupt sei.

Wie lebensnotwendig Vertrauen für eine Republik ist, hat Machiavelli 1531 unterstrichen: "Will es aber das Schicksal, dass das Volk zu niemandem Vertrauen hat, wie es manchmal der Fall ist, wenn es schon früher einmal durch die Umstände oder durch die Menschen getäuscht worden ist, so stürzt es unaufhaltsam in sein Verderben."

Um das, was Helmut Kohl seine Ehre nennt, zu bewahren, kämpft er nicht nur gegen seine eigene Partei, sondern auch gegen unsere Demokratie. Es ist nötig, sie gegen einen in den Augen vieler Bürger verdienten Politiker zu verteidigen. Das ist für viele schmerzlich. Wenn es aber gelingt und die einsichtige demokratische Überzeugung gegenüber der Identifizierung mit Kohl die Oberhand gewinnt, dann haben wir die Chance, die in dieser Krise liegt, genutzt.Die Autorin ist Präsidentin der Universität Viadrina Frankfurt/Oder

Gesine Schwan

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