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In der Genozid-Gedenkstätte in der armenischen Hauptstadt Eriwan trauern Frauen um ihre Angehörigen, die dem Völkermord 1915 zum Opfer gefallen waren.

© David Mdzinarishvili/REUTERS

Völkermord an den Armeniern: Gibt es einen richtigen Zeitpunkt für eine Armenien-Resolution?

Der Bundestag diskutiert über einen Antrag der Grünen zum Völkermord an den Armeniern. Aus Rücksicht auf den EU-Türkei-Gipfel zu Flüchtlingen gibt es am Ende keine Abstimmung - aber ein Versprechen der Regierungsparteien.

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Die Grünen haben am Donnerstag nach einer engagierten Bundestagsdebatte ihren Antrag zurückgezogen, den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich 1915 im Bundestag zu würdigen. Obwohl es inhaltlich keine Kontroverse gab, kündigten die Koalitionsfraktionen in der Debatte am Donnerstagnachmittag an, den Antrag abzulehnen. Allerdings boten alle Redner neue Gespräche über einen gemeinsamen Antrag noch vor dem 24. April, dem Jahrestag des Völkermords, an. Dieses Angebot nahm der Parteichef der Grünen, Cem Özdemir, der ein Jahr lang über einen Kompromissantrag verhandelt hatte, am Ende auch an.

Hans-Peter Uhl (CSU) sagte in der Debatte, die Koalitionsfraktionen würden einen Antrag, "den Sie kennen werden" in den Bundestag einbringen. Die Koalitionsparteien wehrten sich jedoch gegen den Zeitpunkt „zehn Tage vor dem entscheidenden Gipfel“ der Europäischen Union mit der Türkei zur Flüchtlingskrise. Sie warfen den Grünen vor, den Antrag „als Vehikel zur Kritik an der Bundesregierung zu nutzen“, wie das Dietmar Nietan (SPD) formulierte, der in seiner Rede mehrfach die „Sternstunde im Bundestag“ am 24. April 2015 lobte, als bereits einmal alle Redner den Völkermord an den Armeniern als solchen benannt hatten. Die Linke beschwerte, sich aus den Verhandlungen herausgehalten worden zu sein.

Die Verhandlungen über einen interfraktionellen Antrag waren zuvor gescheitert, obwohl sich „eigentlich alle einig waren“, bedauerte Cem Özdemir. Der Antrag, den die Grünen eingebracht hatten, folgte „zu mehr als zwei Dritteln dem Antrag der Koalitionsfraktionen im vergangenen Jahr“, sagte er dem Tagesspiegel.
Für Özdemir ist die Aufregung über den Armenienantrag „ein Lehrstück darüber, wie man aus einem relativ kleinen ein großes Problem machen kann“. Der Antrag war insgesamt eher zurückhaltend. Zwar wird der Völkermord schon in der Überschrift als solcher benannt. Doch habe er „bewusst nicht verlangt“, dass sich die Regierung der Bewertung der Massaker an den Armeniern als „Völkermord anschließt“. Stattdessen wird gefordert, die Bemühungen um Aussöhnung zwischen der Türkei und Armenien und die Zivilgesellschaft bei der Aufarbeitung der Geschichte zu unterstützen.

Tatsächlich haben sämtliche Redner der Bundestagsdebatte die Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 als "Völkermord" bezeichnet. Auch deshalb war Özdemir enttäuscht, dass es nicht gelungen war, einen gemeinsamen Antrag einzubringen. Wenn sich die Regierungsfraktionen hinter den Antrag gestellt hätten, argumentiert er, „wäre das ein Bundestagsbeschluss gewesen, der vermutlich nicht so großes Aufsehen erregt hätte“. Aber die Regierung sei „so ängstlich und eingeschüchtert, dass sie schon den Hauch von Kritik an der Türkei fürchtet“, weil das Land bei der Lösung der Flüchtlingsfrage eine Schlüsselrolle spiele. Özdemir appellierte an die Kanzlerin, in „Verhandlungen mit schwierigen Partnern unsere Selbstachtung nicht aufzugeben“. Der Verzicht auf Werte in der Außenpolitik mache die Position der Regierung nicht stärker. Er meint, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan „braucht die Europäische Union mindestens so dringend wie die EU ihn“. Die Wirtschaftsdaten seien schlecht, die Spaltung der Gesellschaft dramatisch, und in der Region habe Erdogan mittlerweile keine Freunde mehr.

Özdemir: Ich habe meine Haltung immer mit der Zivilgesellschaft in der Türkei abgestimmt

Özdemir selbst hatte 2001, als Rot- Grün regierte, eine Resolution im Bundestag noch nicht für richtig gehalten. In einem Meinungsbeitrag in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hatte er damals argumentiert, das würde nur die Aussöhnung zwischen der Türkei und Armenien erschweren. Darauf angesprochen sagte er: „Ich habe meine Haltung immer eng mit den progressiven Kräften in der türkischen Zivilgesellschaft abgestimmt, insbesondere mit meinem Freund Hrant Dink“, einem armenisch-türkischen Journalisten, der die Armenien-Debatte in der Türkei wesentlich vorangetrieben hat und 2007 ermordet worden ist. Der Mord an Dink und der Zusammenbruch der türkisch-armenischen Verhandlungen nach einer 2009 gemeinsam ausgehandelten Position der Außenminister habe die Situation verändert. Heute warte die Zivilgesellschaft „auf ein Signal aus Deutschland“, sagt er, obwohl „die Angriffe auf kurdische Gebiete, die Verhaftungen und die Einschränkung der Meinungsfreiheit gerade alle anderen Themen überlagern“. Özdemir legt Wert darauf, dass „Deutschland nicht als Lehrmeister der Türkei auftritt“, sondern seinen Teil der Verantwortung als Nachfolgestaat des Kaiserreichs wahrnehme, das früh vom Völkermord wusste und nicht eingriff.

Wer auch immer auf die Idee kommt, aus Rücksicht auf einen Gipfel, ein Treffen, eine Konsultation oder weil man die Erben der Völkermörder gerade für etwas braucht, einen Völkermord nicht so zu nennen und zu verurteilen, macht sich an den Opfern schuldig.

schreibt NutzerIn A.v.Lepsius

Erika Steinbach ist entsetzt

Erika Steinbach (CDU), die krankheitsbedingt bei der Bundestagsdebatte fehlte, sagte dem Tagesspiegel: „Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass man das Kind beim Namen nennen muss. Es ist wissenschaftlich unbestritten, dass es sich um einen Völkermord handelt.“ Es werde „zu Recht angeprangert, dass das Deutsche Reich an diesem Genozid beteiligt war“. Steinbach findet es unverständlich, dass man sich „nur aus Rücksicht auf die Türkei nicht traut zu sagen, dass es ein Völkermord war“. Sie sei „entsetzt, wie zurückhaltend dieses Thema behandelt wird und wie weit man bereit ist zu gehen, um Rücksicht auf die Türkei zu nehmen“. Steinbach verglich die Argumentation des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg mit der aktuellen Debatte über die Flüchtlingskrise. Schon damals habe es geheißen, „dass das Deutsche Reich auf die Türkei angewiesen sei“. Sie finde es „erschreckend, wie ähnlich heute die Motive sind“. Aus „übergeordneten Gesichtspunkten“ habe man damals gesagt: „Wir tun nichts gegen den Genozid.“ Und heute „macht man nichts anderes“, sagte Steinbach.

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