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Völkermord an den Armeniern: Heftige Drohgebärden Erdogans in Richtung Paris

Der Senat hat in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, das die Leugnung des Völkermords an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 strafbar macht. Die Türkei ist empört. Welche Folgen hat der Konflikt?

Die Vorgänge liegen fast 100 Jahre zurück – doch deren historische Bewertung ruft noch immer Zwiespalt zwischen den Völkern hervor. Bei Massakern und Todesmärschen zwischen 1915 und 1917 waren im damaligen Osmanischen Reich mehrere hunderttausend Armenier umgekommen. Die Türkei weist den Vorwurf eines Völkermordes bis heute zurück. Aber in vielen Ländern gilt das damalige Massaker als genau das: als Genozid. Frankreich hat nun dessen Leugnung unter Strafe gestellt. Das empört die Türken.

Wie reagierte die Türkei?

Als Recep Tayyip Erdogan am Dienstagvormittag im Fraktionssaal seiner Regierungspartei AKP in Ankara zum Rednerpult schritt, rechneten die Abgeordneten fest mit einem Donnerwetter. Erdogans Minister hatten mit heftigen Sanktionen gedroht, nun sprach der Chef selbst.

Doch Erdogan, der als Raubein bekannt und einem deftigen politischen Streit mit einem Türkei-Skeptiker wie dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy nie abgeneigt ist, blieb unerwartet ruhig. Erdogans Zorn war kalt: Er attackierte das französische Gesetz und sprach voller Verachtung über Sarkozy – aber er verkündete keine neuen Sanktionen. Die Türkei, so die unausgesprochene Botschaft, gibt dem Nato-Partner Frankreich noch eine Chance.

Erdogan hatte die türkische Reaktion am vergangenen Wochenende mit seinem Außenminister Ahmet Davutoglu abgesprochen. Ankara lehnt den Vorwurf des Völkermordes strikt ab und spricht von kriegsbedingten Massakern an den Armeniern im untergehenden Osmanischen Reich. Im Streit mit Frankreich will Erdogans Regierung aber nun vermeiden, sich durch überstürzte Sanktionsmaßnahmen ins Unrecht zu setzen. Gleichzeitig soll den Franzosen klargemacht werden, was sie in dem Streit mit der Türkei riskieren.

Innenpolitischen Widerstand muss Erdogan nicht fürchten, das Pariser Votum stieß in der Türkei allgemein auf Entrüstung. Frankreich habe die „Demokratie ermordet“, titelte „Hürriyet“. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu sprach von einer „Schande“ und versprach, die Regierung bei Sanktionen gegen Paris zu unterstützen. Nationalistenchef Devlet Bahceli rief Frankreich in Anspielung auf französische Gräueltaten in Algerien auf, sich um „die eigene stinkende Geschichte“ zu kümmern.

Wie könnten türkische Sanktionen aussehen?

Nach türkischen Medienberichten bereitet Ankara unter anderem den dauerhaften Abzug des türkischen Botschafters aus Paris, die Ausweisung des französischen Botschafters aus der Türkei sowie die Sperrung türkischer Häfen und des Luftraums für die Marine und die Luftwaffe des Nato-Landes Frankreichs vor. Auch eine Klage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, an dessen Urteile beide Länder gebunden sind, ist im Gespräch.

Dass es sich nicht um leere Drohungen handelt, zeigt das Beispiel Israel. Nach dem Tod von neun türkischen Aktivisten beim israelischen Angriff auf die Gaza-Flottille vor zwei Jahren setzte Ankara ein ähnliches Sanktionspaket um – es ist bis heute in Kraft. Wie Erdogan jetzt deutlich machte, liegen entsprechende Pläne für Frankreich in der Schublade bereit. „Je nach Entwicklung“ werde der türkische Aktionsplan in die Tat umgesetzt, sagte der türkische Ministerpräsident.

Was steht den Sanktionen noch im Wege?

Bei aller Verärgerung wird die türkische Regierung bei ihren Sanktionsentscheidungen sorgsam darauf achten, nicht der eigenen Wirtschaft zu schaden. Französische Investitionen in der Türkei belaufen sich auf knapp neun Milliarden Euro, fast tausend französische Firmen, darunter große Automobilunternehmen, haben sich in den vergangenen Jahren in der Türkei angesiedelt. Auch im Fall Israel hat es die Türkei verstanden, zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen zu unterscheiden. Trotz der schweren Krise ist der türkisch-israelische Handel seit 2010 um fast 30 Prozent auf ein Volumen von mehr als vier Milliarden Dollar gewachsen.

Inmitten des Proteststurms meldeten sich am Dienstag zudem einige Türken zu Wort, die eine ehrliche Aufarbeitung der blutigen Vergangenheit forderten, nicht zuletzt weil dies das Land international stärken werde. Wenn die Türkei weiter die Entscheidungen der osmanischen Regierung von 1915 rechtfertige, statt zu verstehen, was damals wirklich geschehen sei, „dann werden wir auch weiterhin Opfer von opportunistischen Idioten wie Sarkozy werden“, erklärte der AKP-Parlamentsabgeordnete Suat Kiniklioglu.

Was veranlasst Sarkozy, diesen Konflikt mit der Türkei auszutragen?

Bei einem Besuch in Armenien hatte Sarkozy im Oktober vergangenen Jahres die Türkei aufgefordert, sich als Nachfolgerin des Osmanischen Reichs endlich zum Völkermord an den Armeniern zu bekennen. Es war weniger ein Ultimatum an Ankara als wenige Monate vor der kommenden Präsidentenwahl eine Geste gegenüber den etwa Franzosen armenischer Herkunft – ihre Zahl schwankt in unterschiedlichen Quellen zwischen 400 000 und 600 000. Sie pochen schon lange auf ein Gesetz, das die Leugnung des Genozids an den Armeniern genauso unter Strafe stellt wie das Leugnen des Holocausts. Mit Zustimmung der Regierung brachte darauf eine UMP-Abgeordnete im Eiltempo das umstrittene Gesetz im Parlament ein, das nun das Verhältnis Frankreichs zur Türkei belastet.

Ob der erwartete Gewinn an Wählerstimmen den diplomatischen Scherbenhaufen aufwiegt, daran waren sowohl im Regierungslager als auch in der Opposition schon vor der Abstimmung Zweifel aufgekommen. So hatte Bernard Accoyer (UMP), der Präsident der Nationalversammlung, kürzlich bekannt, er habe gegen das Gesetz gestimmt. Auf die angekündigte Beschwerde beim Verfassungsrat will er jedoch verzichten, „weil sonst die Negationisten triumphieren würden“.

Angesichts des Schadens verrenkt sich die Regierung in scheinheiligen Wortklaubereien. So verwies Innenminister Claude Guéant darauf, dass sich das Gesetz gar nicht gegen die Türkei richte, sondern nach seinem Wortlaut nur das Abstreiten eines von Frankreich per Gesetz anerkannten Genozids mit einem Jahr Gefängnis und 45 000 Euro Strafe bedroht sei. Doch neben dem Holocaust, dessen Negation seit 1990 unter Strafe steht, hat Frankreich bisher nur 2001 das Massaker an den Armeniern per Gesetz als Völkermord bezeichnet.

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