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Politik: Volkspartei im Szeneviertel

Von Hans Monath

Der Prenzlauer Berg gilt manchen Soziologen als eine Art FreiwildLabor für die Zukunft der Metropole. Eine wilde Mischung bietet der Berliner Stadtteil, viele Freiräume und sehr viel Kultur. Die Menschen, die dort wohnen, sind jung, wollen viel erleben und haben trotzdem den Mut, Kinder in die Welt zu setzen. In Prenzlauer Berg haben die Wähler am Sonntag die Grünen mit mehr als 40 Prozent zur stärksten Partei gemacht. Weit abgeschlagen folgen die Sozialdemokraten mit 15 Prozent auf dem dritten Platz.

Der Triumph im Berliner Szenebezirk hat sich in den alten Bundesländern am Sonntag bei der Europawahl und auch bei den Kommunalwahlen im Westen und Südwesten (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Saarland) in abgeschwächter Form wiederholt: In vielen Universitätsstädten wie Freiburg, Tübingen oder Frankfurt am Main hat die einstige Öko-Partei die Zwanzig-Prozent-Marke übersprungen und die SPD überholt. Im Schnitt kommen die Grünen in allen West-Großstädten auf 20,6 Prozent. Die Grünen, die als dogmatische, wirre Truppe vor mehr als 25 Jahren die politische Bühne betraten, scheinen in Deutschland auf dem Weg zu einer urbanen Volkspartei.

Die Ungerechtigkeit schmerzt die SPD. Die Koalition gemeinsam macht die Reformen, für die am Sonntag nur ein Partner abgestraft wurde. Während die älteste deutsche Partei wankt und mit Blick auf neue Wahlen in Schreckensstarre verfällt, sind die Grünen obenauf. Man könnte auf die Idee kommen, dass ihre Wähler und die Kanzler-Verächter unter den früheren SPD-Stammwählern nicht im gleichen Land leben, sondern auf verschiedenen Planeten.

Tatsächlich trennt beide Gruppen viel. Vielleicht muss man sich die idealtypische Grünen-Wählerin als eine Frau mit Diplom, Laptop, Kinderwagen und Altbauwohnung vorstellen. Wie ihr Freund oder Mann hat sie einen ausgeprägten Sinn für soziale Gerechtigkeit und will ihrem Kind keine kaputte Umwelt hinterlassen. Was aber noch wichtiger ist: Die Grünen-Wählerin kann dank ihrer guten Bildung vom gesellschaftlichen Wandel profitieren – im Gegensatz zu Menschen mit niedrigerem Einkommen. Die Hoffnung, dass ein solidarisches Gesundheitssystem erhalten werden kann, treibt sie mehr um als die Zehn-Euro-Praxisgebühr. Kurz: Sie sieht sich nicht als Opfer der Reformen.

Die Grünen haben hart dafür gearbeitet, dass sie heute als Antreiber der Reformpolitik und als stabilisierendes Moment in der Regierung gelten. Sie haben früh darüber geredet, dass Gerechtigkeit im nachindustriellen Zeitalter komplizierter geworden ist, und waren besser vorbereitet auf die Agenda 2010 als die SPD. Sie begegnen Kritik an den Reformen anders als viele Sozialdemokraten nicht mit schlechtem Gewissen. Die vielen von der SPD gewonnenen Stimmen zeigen, dass die Grünen eine Heimat für jene sozial ansprechbaren Menschen bieten – also eine politische Linke –, die das halbherzige Gezerre nicht mehr überzeugt, das die SPD als Partei bei den Reformen veranstaltet.

Die Grünen als Ersatz-SPD? Nie werden die Ökologen eine Volkspartei im strengen Sinne sein. Sie beanspruchen, auch für die Menschen zu sorgen, die im rasanten Wandel unterliegen, die nicht in Prenzlauer Berg oder in den Studentenvierteln der Unistädte wohnen. Aber sie haben für sie kein Angebot. Wer aber kümmert sich dann um Stadtviertel wie Wilhelmsburg in Hamburg, wo die Verlierer der Globalisierung wohnen, die sich von der Agenda 2010 bedroht fühlen und weit und breit keinen Gewinn darin sehen können?

Diese Menschen kann nur die SPD zurückholen. Nicht allein, weil die Reformen ein Fundament haben müssen und Schröder die Stimmen braucht, um weiterzuregieren. Die SPD muss sie auch zurückholen, weil die Demokratie in eine gefährliche Schieflage gerät, wenn die Verlierer sich politisch nirgendwo mehr zuhause fühlen. Auch wenn die Grünen nun obenauf sind: Helfen können sie dem Partner bei dieser Aufgabe nur wenig.

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