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Politik: Vom großen und vom kleinen Mut

BILANZ DES KIRCHENTAGS

Von Martin Gehlen

Ein starker Auftritt. Der erste Ökumenische Kirchentag in Berlin hat Maßstäbe gesetzt, für die Christen, die Kirchen und für die Gesellschaft. Wer mit einer solchen Großveranstaltung mitten in die Hauptstadt zieht, der muss etwas zu bieten haben – geistig, spirituell und politisch. Zeitansage wollte der Kirchentag sein. Dieses Ziel hat er erreicht. Die festlichen Tage haben nicht nur bewiesen, was für ein Ausmaß an Gutwilligkeit und Einsatzfreude, an Anziehungskraft und Integrationskraft nach wie vor in den Kirchen steckt. Sie haben auch gezeigt, wie viel die Christen an Orientierung beizusteuern haben zu den heutigen Zeitproblemen und Lebensfragen.

Dennoch kann die eindrucksvolle Präsenz nicht verdecken, dass die Christen schwächer werden. Beim Glauben und Glaubenswissen hat ein Traditionsabbruch eingesetzt, wie es ihn in 2000 Jahren noch nicht gegeben hat. Er reicht bis tief hinein in die kirchlichen Milieus. Gewissheiten verdampfen, Fundamente gehen verloren, nicht aber die Sehnsucht nach tragfähigen Antworten für das eigene Leben. Und die Marktwirtschaft mit ihren Plausibilitäten kann diese Lücke nicht füllen. Eine vielfältige Sehnsucht nach Spiritualität und Religiosität – auch das gehörte mit zur Zeitansage. Der Ökumenische Kirchentag hat darauf mit Behutsamkeit, Feingefühl und Aufmerksamkeit reagiert. Entsprechend überwältigend war das Interesse an den Angeboten beider Kirchen, nicht nur an den morgendlichen Bibelstunden, auch an den religiösen Vorträgen und Gottesdiensten, an den Angeboten der Stille, der Musik, des Gesprächs und der Meditation.

Der Umbau des Sozialstaates wiederum wirft Fragen auf, die weit darüber hinausgehen, wie sich neue Verteilungsregeln am besten zuschneiden lassen. Es geht um das Bild vom Menschen und das Selbstverständnis der Gesellschaft. Es geht um einen neuen Blick für Prioritäten und um die Zukunft von Verantwortung. Auf dem Christentreffen mit seinen 200000 Teilnehmern wurde darüber in sehr qualifizierter Weise nachgedacht und diskutiert – genauso wie über die großen Weltthemen Bewahrung der Schöpfung, Globalisierung, gerechte Wirtschaftsordnung, Kampf gegen die Armut sowie Krieg und Gewalt.

Im Vergleich dazu fiel die Zeitansage in eigener Sache kleinmütig aus. Die gewundenen Vorbehalte der katholischen Hierarchie gegen jede Form eines gemeinsamen Abendmahls versteht niemand mehr. Der Umgang mit Hans Küng, dem weltweit beachteten Vordenker von Ökumene, offenbart kleinlichen Krämergeist. So wenig von einer konfessionellen Kirchenspaltung auf dem Kirchentag zu spüren war, so deutlich zeigten sich die innerkatholischen Differenzen zwischen Lehramt und Gläubigen. Wir sind das Gottesvolk – das denken und praktizieren immer mehr Katholiken. Und lassen sich ökumenisch inspirieren von Martin Luthers „Freiheit eines Christenmenschen".

Denn die Kräfte, die noch in solche innerkirchlichen Grabenkämpfe fließen, werden längst an anderer Stelle gebraucht. In gesellschaftliche Debatten eingreifen und die Wünsche nach Innerlichkeit aufgreifen – das sind Zukunftsaufgaben, die Christen nur gemeinsam anpacken können. Und sie werden sich davon auch nicht abhalten lassen.

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