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Politik: Vom Kopftuch zum Flickenteppich

STAAT UND RELIGION

Von Clemens Wergin

Seit dem Investiturstreit im 11. Jahrhundert zwischen Papst und Kaiser hat kaum eine Frage Europa so umgetrieben wie die Trennung von Kirche und Staat. Und wie die Kopftuchentscheidungen in Berlin und Baden-Württemberg zeigen: Die Debatte geht weiter.

In Deutschland hat es fast 1000 Jahre philosophischer und politischer Auseinandersetzung bedurft, bis die Weimarer Verfassung 1919 den weltanschaulich neutralen Staat etablierte. Die Frage des Kopftuches im staatlich-öffentlichen Raum berührt also einen zentralen Punkt unseres Staats- und Selbstverständnisses. Umso unverständlicher, dass sich nun jedes Bundesland seine eigene Philosophie bastelt. Die Berliner, die alle religiösen Symbole aus Schulen entfernen wollen, brechen mit der Tradition der positiven Religionsfreiheit, die ihre Wurzeln in der deutschen Aufklärung hat. Anders als in Frankreich bedeutet die Neutralitätspflicht hier zu Lande nicht, dass Staat und Religion strikt getrennt werden. Der Staat, so forderten die Aufklärer, habe weltanschaulich neutral zu sein. Gleichzeitig waren sie besorgt um die Grundlagen, auf denen er ruht. Wer sollte den Bürgern Anstand und Moral vermitteln, auf die jede Gesellschaft angewiesen ist, wenn der Staat sich in Wertefragen zurückhalten musste?

Für die „sittlich-moralische Bildung“, wie man das damals nannte, waren die Religionen zuständig. Die sollte der Staat deshalb fördern, ohne aber eine zu bevorzugen. Das ist der Grund, warum der Staat heute Kirchensteuer einzieht, Theologen ausbildet und Kirchen anders behandelt als Vereine oder Firmen. Und das ist die Tradition, aus der sich Berlin mit dem Verbot aller religiösen Symbole an Schulen verabschiedet. In letzter Konsequenz hieße das, auch die Ausbildung von Theologen an den Berliner Unis aufzugeben wie auch andere Privilegien der Kirchen.

Baden-Württemberg wählt das andere Extrem. Dort wurde ein Gesetz verabschiedet, dass das Kopftuch verbietet, aber die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ fördert. Diese Formulierung soll sicherstellen, dass Lehrerinnen etwa weiter Nonnentracht tragen dürfen. In gewisser Weise eine Rückkehr zum voraufgeklärten Staat, mit dem Unterschied, dass diesmal das Judentum in den abendländischen Konsens einbezogen werden soll.

In einem Land, das führende Staatsphilosophen und Staatsrechtler hervorgebracht hat, wird ein zentrales Thema unseres Selbstverständnisses gerade der deutschen Kleinstaaterei überantwortet. Wenn es etwa um Studienabschlüsse geht, versuchen die Landesregierungen, jedes Detail untereinander zu klären. Bei einer Grundsatzfrage wie dem Verhältnis zwischen Staat und Religion tut nun jedes Land so, als sei es eine Insel im Meer der Geschichte. Ein Blick in dieselbe zeigt, dass die Religionsfreiheit stets gegen Vorwürfe verteidigt werden musste, eine bestimmte Gemeinschaft verhalte sich illoyal. Das behaupteten die sich als christlich verstehenden deutschen Staaten bis in die Neuzeit gegenüber deutschen Juden, aber auch das preußisch-protestantische Kaiserreich im Kulturkampf gegenüber seinen Katholiken. Wer jetzt also Muslime in Deutschland dem Generalverdacht des Islamismus aussetzt, reiht sich ein in deutsche Traditionen – aber in die falschen.

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