zum Hauptinhalt
Das Ende der acht Monate lange Südamerikareiseder Gorch Fock, die vom Tod einer Kadettin und zahlreichen Negativschlagzeilen überschattet wurde.

© dpa

Gorch Fock: Vom Winde verweht

Wozu brauchen wir die Gorch Fock? Die Fragen nach der Rückkehr des Schiffes sind nicht neu. Aber hoch brisant.

Ein Schiff ist gekommen. Ein Segelschiff. Das deutsche Segelschulschiff. Das maritime Aushängeschild der Bundesrepublik Deutschland. Ein Begleitkonvoi aus Traditionsschiffen und Sportbooten hat den Großsegler am Freitag an der Mündung der Kieler Förde vor dem Leuchtturm Bülk empfangen und zum Liegeplatz im Tirpitzhafen eskortiert. Die Gorch Fock hat festgemacht im Kieler Heimathafen. Nach beinahe neun Monaten nimmt John Schamong seinen Sohn wieder in Empfang, den Oberbootsmann John Patrick. Die 157. Auslandsausbildungsreise war eine der längsten der Gorch Fock – und sie ist überschattet von einem tödlichen Unfall. Mit der Ankunft beginnt für Schamong senior eine Reise in die Vergangenheit. Der kürzlich pensionierte 60-Jährige war ein Jahr lang Erster Offizier und vier Jahre lang Kommandant auf dem Schulschiff der Bundesmarine. Auch unter seiner Verantwortung hat es damals einen tödlichen Unfall gegeben.

Unter den Kielern, die die Gorch Fock an der Pier erwarten, ist auch Uwe Schneidewind, Kapitän auf großer Fahrt. 18 Jahre war er unterwegs auf Großseglern, begann seine Laufbahn am 24. Juni 1955 noch auf der Pamir, dem bekanntesten Segel-Schulschiff der deutschen Handelsschifffahrt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Pamir ist eine Legende. Als letzter Windjammer ohne Hilfsmotor hatte sie 1949 Kap Hoorn umsegelt. Doch am 21. September 1957 ging sie 600 Seemeilen westsüdwestlich der Azoren im Hurrikan Carrie auf Grund. 80 der 86 Besatzungsmitglieder kamen um, die meisten ertranken. Einige verdursteten in den Rettungsbooten oder tranken sich mit Meerwasser um den Verstand. Es war die erste große Katastrophe, die die junge Bundesrepublik erschütterte. 

Schon damals wurden Fragen gestellt. Wozu braucht die neu gegründete Bundesmarine ein Segelschulschiff? Wer muss im 20. Jahrhundert noch mit echter Handarbeit, mit Tauen, Tampen und Leinen über die Weltmeere fahren? Und wem außer ein paar unverbesserlichen Nostalgikern nutzt so viel Anachronismus? Beim Bau der Gorch Fock, dem militärischen Pendant zur Pamir, wurden erhebliche technische Konsequenzen aus dem Unglück gezogen. Die Fragen aber sind geblieben, bis heute, und es sind im Wesentlichen die von 1958.

In den vergangenen sechs Monaten haben sie jede Menge neue Nahrung erhalten. Am 7. November 2010 stürzt die 25- jährige Offiziersanwärterin Sarah Lena Seele im brasilianischen Hafen von Salvador da Bahia aus 27 Metern auf Deck. Die Kadetten würden an Bord drangsaliert, hört man, schließlich wird Kommandant Norbert Schatz vom damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg über Nacht suspendiert. Seit März heißt der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière, auch wegen dieser kopflosen Reaktion. Schneidewind, Schamong und die überwiegende Zahl jener, die auf der Gorch Fock gedient haben, waren jedenfalls entsetzt über das Flottenkommando und die politische Führung der Marine.

Doch ist ein Großsegler wie die Gorch Fock nicht die perfekte Schule des Lebens, Anachronismus hin, Mythos her? Schwer erziehbare Jugendliche schickt man aufs Schiff, Manager lernen an und unter Deck, was Teamgeist heißt und Fairplay und welche Folgen es haben kann, seiner Verantwortung nicht gerecht zu werden. Die Frage für die Profis ist nur, ob das Klettern in die Takelage unbedingt dazugehört, das in der „Segelvorausbildung SSS Gorch Fock“ mit 57 Ausbildungsstunden vorgesehen ist? Der Schriftsteller Siegfried Lenz, einst Seekadett im Zweiten Weltkrieg, kann mit jener Ausbildungsanweisung 710204 für die „Seemännische Basisausbildung“ wenig anfangen: „Beim Krieg heute fragt niemand mehr nach der Fähigkeit, Segel zu setzen. Wer in Traditionen verliebt ist, der soll das tun meinetwegen, ich halte es für entbehrlich. Um gegen die Piraterie an der afrikanischen Küste etwas zu unternehmen, würde niemand auf den Gedanken kommen, die Gorch Fock als Droherscheinung hinzuschicken.“

Für die Handelsschifffahrt seien Segelschiffe obsolet, das gibt auch Schneidewind unumwunden zu. Er hat in diesen Wochen viel damit zu tun, die Fahrpläne des zivilen Großseglers Sea Cloud  umzuschreiben und neu zu berechnen. Das zumeist amerikanische Publikum der Edel- Barke möchte derzeit nämlich lieber nicht vor nordafrikanischen Küsten kreuzen. Als erster Nautiker der Reederei Sea Cloud Cruises ist Schneidewind eine Idealbesetzung, das Geschäft hat er von der Pike auf gelernt. Von 1982 bis 1985 fährt er als „IO“ – Erster Offizier – auf der Gorch Fock, anschließend ist er „Sailing Master“ auf dem Trainingssegelschiff Alexander von Humboldt (das später mit flaschengrünen Segeln durch die Becks- Bier-Werbung segelt).

Die Charakterbildung auf einem Segelschiff ist nicht entbehrlich, da ist sich die deutsche Marine seit Kaisers Zeiten einig. Der Mannschaftsgeist müsse auch heute Dreh- und Angelpunkt aller Unternehmungen an Bord bleiben, heißt es aus Kiel. Aber braucht nicht jedes Schiff, das dampft und segelt, einen, der die Sache regelt? Was der Freizeitsegler Guido Westerwelle befürwortet – privat oft auf der Kieler Förde unterwegs –, galt schon nach dem Zweiten Weltkrieg als antiquiert.

Auch auf den Segelschulschiffen selbst haben die Zeitläufte ihre Spuren hinterlassen. „Auf der Pamir haben sich die neuen Leute erst einmal umgeguckt“, erzählt Schneidewind. „Wo ist hier mein Platz?“, haben sie gefragt, „wie füge ich mich ein?“ Die Menschen vom Land hätten es auf dem Schiff leichter gehabt als die aus der Stadt. Und wie ist es, wenn heute ein Neuer an Bord kommt? „Hier bin ich der Mittelpunkt“, sagt Schneidewind und richtet seinen kräftigen Körper zur vollen Höhe von ein Meter neunzig auf. Der ehemalige Offizier, Jahrgang 1938, blickt auf 55 Berufsjahre zurück, zum An- und Ablegen der Gorch Fock geht er nicht nur aus alter Verbundenheit. „Ich schaue mir die Eltern und Freundinnen der Kadetten an: Was das für Charaktere sind.“ Ob ein Vater seinem Sohn den Seesack auf das Schiff trägt oder der Filius mit dem Porsche vorfährt. So etwas interessiert ihn. „Früher gab’s nicht so viele Pseudo-Rothaarige und Tätowierte – das Tätowieren war sowieso nur etwas für die Mannschaftsdienstgrade.“

Wäre die Gorch Fock nicht unter dem Kommando von Michael Brühn aus Südamerika zurückgebracht worden, der das Schiff fünf Jahre lang bis Februar 2006 führte, hätte John Schamong es machen müssen – und gerne gemacht. Schamong war Brühns Vorgänger. Mit den Tätowierungen der jungen Landratten hatte auch er sich zu arrangieren. Die Piercings der Offiziersanwärter müssen allerdings auch heute noch raus. Anderes wird geduldet, wenn auch nicht offiziell. Sex an Bord zum Beispiel steht unter Strafe. Überhaupt: Frauen? „Schlimmer als alle potenziellen Beziehungskisten ist der Zickenkrieg untereinander“, sagt Schamong, ein bisschen Chauvinismus muss auf hoher See wohl sein: „Das kannten wir von den männlichen Besatzungen gar nicht.“ Fachlich gesehen sind viele Frauen absolut untadelig, „Lehrgangsbeste“, sagt Schamong. Außerdem sei der Umgangston durch das weibliche Geschlecht natürlich ziviler geworden.

Wie kann es da sein, dass eine junge Kadettin im Hafen bei ruhiger See aus den Masten fällt? Ein Unglücksfall, sagt Schneidewind. Berufsrisiko, sagt Schamong. Schneidewind, ein Mann wie ein Mastbaum, war zuletzt mit 66 Jahren auf einem Großmast „on top“. Er hat das sein Leben lang gemacht. Nach der Gorch Fock ist er fast zehn Jahre lang als Kapitän auf dem zivilen Luxussegelschiff Lili Marleen gefahren. Das touristische Interesse für die Segelschifffahrt ist groß, führt zu vielen Neubauten. Das Personal für diese Schiffe kommt oft – fertig ausgebildet, dazu noch billig – aus Osteuropa.

Aber wie lernt man das Aufentern, das Klettern auf die Masten? Schneidewind holt aus. „Ein Lehrgang auf der Pamir dauerte sechs Monate“, sagt er, „Monate!“ Als er als junger Segeloffizier auf der Gorch Fock anfing, 1967, dauerte die Ausbildung noch drei Monate. Heute sei diese noch einmal auf die Hälfte verkürzt. „Ich habe mich in meiner Zeit als verantwortlicher Offizier ständig mit dem Marineamt angelegt, weil ich der Meinung war und bin, dass man erst dann losfahren kann, wenn man seeklar ist.“ Dazu gehören heute auf jeden Fall auch Liegestütze. Die seien in den fünfziger Jahren noch nicht notwendig gewesen. „Damals waren die Leute fitter“, beobachtet auch Schamong. Seine Prognose: „Man wird die Gesundheitsuntersuchungen verschärfen müssen.“. Außerdem wird die Marineschule demnächst einen Übungsmast an Land aufstellen. Den hatte der Wehrbeauftragte der Bundeswehr bereits vor seinem Antrittsbesuch Ende März gefordert– man könne nicht mehr nur nach kaiserlicher Marinetradition ausbilden.

Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu bizarr, dass die maschinenangetriebene Kreuzfahrt-Blechbox Carnival Magic ihrem Publikum seit diesem Winter auf dem Sportsdeck einen „Hochseilgarten“ anbietet, eine Takelage zum Klettern. Sie liegt – wie bei der Gorch Fock – bis zu 45 Meter über dem Wasser.

Der tödliche Sturz vom November 2010 ist nicht der erste auf der Gorch Fock. Zwölf Unfälle seit 1958 verzeichnet das Internet, Schamong weiß von sechs. Noch nie aber war die mediale Erregung so groß wie in den vergangenen Monaten. Ist die Gesellschaft so viel sensibler geworden? Oder nur sensationssüchtiger? Kommandanten leiden lange unter solchen Katastrophen. Auch Schamong hat einen Kadetten verloren, 1999 im Skagerrak. Im Krankenhaus in Göteborg entschieden Eltern und Ärzte, die Maschinen abzustellen. „Wir haben dann versucht, die Besatzung wieder ans Fahren zu bekommen und diesen Unfall vergessen zu machen. Aber das ist unglaublich schwer – und es wird immer schwerer.“ Halten junge Männer und Frauen heute nicht mehr so viel aus wie früher? Sind sie nicht mehr dazu bereit, Schmerz zu ertragen, sich ins Unvermeidliche zu schicken? Mit Kaltblütigkeit hat das nichts zu tun, betont Schamong und erzählt von sich selbst: „Ich wurde morgens um drei Uhr wach und hatte das Bedürfnis auf die Brücke zu gehen. Vier Minuten später hörte ich ein Zischen und dumpfes Knallen. Dieses Geräusch werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“ Das Schiff bewegte sich nicht, eine ruhige Mondnacht. Der Offiziersanwärter hatte vergessen, sich mit einer Leine zu sichern. Er hat mit beiden Händen gearbeitet, um das Segel kurz zu reffen, dabei den Halt verloren.

In der Ausbildung geht es immer um das „Begreifen durch Greifen“ sagt Schneidewind. Um oben und unten, um klare Verhältnisse. Um Backbord und Steuerbord, um die Macht der Elemente, Befehl und Gehorsam. Kategorien, Qualitäten, die einen Großsegler auch dem zivilen Publikum verlockend erscheinen lassen: Eine kleine überschaubare Welt, ein Mikrokosmos, ein Modell des Miteinanders, das im Idealfall mit sich im Reinen ist.

Schneidewinds erstes Dienstzeugnis legt eindrucksvoll die Charakterformung jener Jahre dar. Nach zehn Monaten und 16 Tagen auf der Pamir bescheinigt ihm das Seemannsamt am 12. Oktober 1956 mit einer geschwungenen Klammer hinter den Kategorien „Diensttüchtigkeit“, „Nüchternheit“ und „Betragen“ ein „Sehr gut“. Das war offenbar alles, was ein neuer Arbeitgeber zu jener Zeit über eine Arbeitskraft, die zur See fahren wollte, wissen musste und wollte. Heute möchte Schneidewind sein Wissen und Können gerne weitergeben. Doch an wen? Morgen hat er Geburtstag, in zwei Jahren wird er 75 Jahre alt. Dann soll Schluss sein mit der Berufstätigkeit. Und was macht ein alter Seebär wie er dann?

Schamong versichert glaubhaft, dass er in keinem Hafen eine Braut hatte. Überhaupt hat der Beruf mit seinen Klischees ernüchternd wenig zu tun. Ein Musikinstrument hat Schamong sich gerne mit nach Hause gebracht. Und das soll alles sein? Wo bleibt in einem so langen Berufsleben die Schiffsromantik, für die Kreuzfahrer so viel bezahlen? „Die kann man nicht planen“, sagt Schamong. Die kommt einfach so. Wie die Sonne, die aufgeht. Wie der Blick zum Horizont. Wie ein Großsegel, das gesetzt wird. Wie ein Sturm, der von der Mannschaft erfolgreich abgewettert wird. Wie ein Schwarm Delfine, der um den Bug springt, wie die fliegenden Fische, die an Bord segeln.

Schneidewind (der sich wegen seines Namens besonders während der Flauten manchen Spruch gefallen lassen musste) glaubt fest an die Zukunft der Segelschifffahrt. Ihn fasziniert der Maltese Falcon, ein Hightech-Segler, bei dem sich die Masten in den Wind drehen lassen. Der Flettner-Rotor der frühen Zwanzigerjahre hingegen werde wohl keine Zukunft haben – auch wenn 2009 in Kiel mit dem E-Ship ein Neubau aufgelegt wurde. Hier werden an Deck stehende Walzen vom Wind angetrieben und sorgen für zusätzlichen Schub. Der Flettner-Rotor und die kommerzielle Segelschifffahrt aber wurden durch den Dieselmotor überholt: Maschinengetriebene Schiffe können Fahrpläne einhalten. „Die Verschmutzung der Luft durch die Schiffsverkehre“, sagte Schneidewind, „ist größer als die durch den Luftverkehr verursachten Verunreinigungen.“ Klar, dass hier etwas geschehen muss. Experimente mit Zugsegeln – großen Lenkdrachen am Bug, die erhebliche Kraftstoffersparnis bringen können – stellen einen solchen Neubeginn dar.

Auch der Faktor Mensch kann mit Blick auf das Berufsbild des Seemanns optimiert werden. Das Leben und Arbeiten unter existenziellen Bedingungen, in einer Mannschaft, funktioniert wie eine Anleitung zur Selbsterziehung. Nur wer sich einfügt, nur wer solidarisch ist und sozial, wird Erfolg haben. Aussagen von John Schamongs Kadetten untermauern das. Auf Fragebögen am Ende ihrer Ausbildung steht häufig: „Ich bin ein anderer Mensch geworden.“ Welcher Auszubildende kann das mit solchem Ernst und nach nur sechs Wochen schon von sich behaupten? Das Segelschiff als Arche unserer Werte, was für eine Utopie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false