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Politik: Von Honecker Zivilcourage lernen

Tiefensee trifft Schüler zum DDR-Talk

Von Antje Sirleschtov

Berlin - Warum sollten sich 16-Jährige heute noch mit der DDR beschäftigen? Sie waren noch nicht einmal geboren in jener Nacht des 9. Novembers 1989, als ein Mann namens Günter Schabowski auf die Frage eines italienischen Journalisten antwortete: ab sofort. Woraufhin sich nach 28 Jahren die Mauern öffneten in Deutschland. Und es hilft den 16-Jährigen – jedenfalls auf den ersten Blick – auch kein bisschen bei der Orientierung in der globalisierten Cyberspacewelt, wenn sie erfahren, wie ein unbekannter Fremder, Klaus Brüske, 1962 beim Fluchtversuch an der Berliner Mauer erschossen wurde.

Trotzdem liefert ihnen an diesem Mittwoch jemand einen triftigen und für sie verständlichen Grund, über die DDR nachzudenken: „Zivilcourage“ sagt Wolfgang Tiefensee, der ostdeutsche Minister im Bundeskabinett. Mit 50 Gymnasiasten aus Prenzlauer Berg sprach er am Mittwoch in der Kapelle der Versöhnung an der Bernauer Straße. Zivilcourage sei etwas, was man aus der Beschäftigung mit der sozialistischen Diktatur Honeckers lernen könne. Denn Diktatur sei „etwas, das sich im Alltag abspielt, und Zivilcourage eine Alltagstugend, die man in jeder Gesellschaft brauchen kann“.

Tiefensee begegnet an diesem Tag nicht zum ersten Mal Schülergruppen, denen er erzählt, wie er selbst die DDR erlebt hat, und die er fragt, was sie über die Zeit wissen, in der ihre Eltern und er selbst jung waren. Als Spross einer christlichen Musikerschule und Aktivist des kirchlichen DDR-Widerstands hat sich Tiefensee immer wieder eine blutige Nase geholt, weil er sich dem System nicht anpassen wollte. Davon berichtet er. Und davon, wie er selbst mit der Angst umgegangen ist. Denn die tägliche Furcht davor, seine Meinung zu sagen und dafür denunziert und bestraft zu werden, diese Angst ist für Tiefensee die wohl wesentlichste Erscheinungsform der Diktatur. Wie eine Krake, sagt er, habe sie sich breitgemacht und fast ein ganzes Volk erfasst. Was vielleicht eine Antwort sein kann auf die Frage, wie es überhaupt möglich war, 16 Millionen Menschen jahrzehntelang hinter Stacheldraht einzusperren. Auch einen wie Wolfgang Tiefensee.

Sein junges Publikum, beinahe vollständig aus ostdeutschen Familien, weiß so gut wie gar nichts über die DDR und ihren Alltag. Keine ungewöhnliche Erfahrung für Tiefensee: Zwölf Schulstunden DDR-Kunde ab Klasse 10 sind nicht viel, um jungen Leuten tiefe Einblicke zu ermöglichen. Auch zu Hause wird vielleicht zu selten über die Biografien der Eltern gesprochen. Es gebe viele Ostdeutsche, glaubt der Minister, die fühlen, dass ihre Vergangenheit im neuen Deutschland nicht richtig aufgehoben ist. Weshalb sie lieber schweigen, auch vor ihren Kindern. Tiefensee bedauert das, will in Gesprächen wie diesem zu offenerem Austausch ermuntern. Zivilcourage, sagt er noch, sei etwas, das am 9. November 1989 keinesfalls überflüssig geworden sei.

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