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Politik: Von links nach rechts

Von Sabine Heimgärtner, Lyon André Gerin fühlt sich sichtlich unwohl in seinem akkuraten Anzug. Steif und zugeknöpft sitzt er in seinem piekfeinen Büro im Rathaus von Venissieux, einer 60000-Einwohner-Stadt vor den Toren von Lyon.

Von Sabine Heimgärtner, Lyon

André Gerin fühlt sich sichtlich unwohl in seinem akkuraten Anzug. Steif und zugeknöpft sitzt er in seinem piekfeinen Büro im Rathaus von Venissieux, einer 60000-Einwohner-Stadt vor den Toren von Lyon. Seit 17 Jahren ist der Kommunist dort Bürgermeister, hat preiswerte Plattenbauten hochziehen lassen, für Parks und Blumenrabatten gesorgt und bedeutende Unternehmen der Chemie- und Metallindustrie angelockt. Dafür wurden er und seine Partei bei den Kommunalwahlen kräftig belohnt. Zu „Bestzeiten“ registrierten die Kommunisten Traumergebnisse von fast 50 Prozent. Seit einer Woche liegt ein Makel über der Stadt. Der ultrarechte Chef der Partei Front National (FN) machte bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen das Rennen, mit 22 Prozent der Stimmen. Gerins Kommunisten blieben mit neun Prozent weit abgeschlagen. Gerade erst hat Gerin eine große Kampagne zur Anwerbung neuer Investoren gestartet.

Aus dem erhofften Ansiedlungsboom wird wohl erst einmal nichts. Schon vor dem sensationellen Abschneiden Le Pens war Venissieux mit einem rund 60-prozentigen Anteil nordafrikanischer Einwandererfamilien, viel Kleinkriminalität und hoher Arbeitslosigkeit abgestempelt, jetzt erst recht.

Absehbarer Rechtsruck

Gerin will den Schock noch nicht wirklich wahrhaben, seine Antworten auf Journalistenfragen sind kurz. Können die Kommunisten das Vertrauen der Einwohner von Venissieux wieder gewinnen? „Ja“. War der Rechtsruck in der Bevölkerung absehbar? „Ja“.

Tatsächlich hatte sich das rechtsextreme Votum schon lange schleichend angekündigt. Bei mehreren Bürgerbefragungen stellten die Kommunalpolitiker seit Mitte der 90er Jahre fest, dass Nachbarschafts- und Ausländerhass, Existenzangst und Perspektivlosigkeit um sich greifen. Viele Menschen sprechen sogar von „Bürgerkrieg“.

Banden gegen Polizei

„Die Polizei ist völlig machtlos. Die kommen gar nicht mehr, weil sie im Ernstfall von einer Bande von 20, 30 maghrebinischen Jugendlichen empfangen werden, die ihnen mit Steinen die Windschutzscheibe einschlagen“ - wütende, verzweifelte Äußerungen von Franzosen, mit denen man hunderte von Seiten füllen könnte. Nichts geht mehr in Venissieux, schon gar nicht im Stadtteil Minguettes, dem Problemviertel der kleinen Stadt. Dort liegt die Arbeitslosigkeit bei 35 Prozent, weit über 2000 Familien leben unter der Armutsgrenze. 49 Prozent der Wahlberechtigten sind beim ersten Wahlgang erst gar nicht an die Urnen gegangen. Und die anderen? Viele haben Le Pen gewählt.

Annick zum Beispiel, eine 43-jährige Chemiearbeiterin, die vor 15 Jahren nach Venissieux gezogen ist, weil dort die Mieten billig waren und Plätze üppig begrünt. „Heute kann man öffentlich nicht einmal mehr zugeben, dass man dort wohnt. Wenn man mit Scheck bezahlt, selbst kleinste Beträge, will der Ladenbesitzer aufgrund der Adresse einen Ausweis sehen“, entrüstet sich die Französin. Hinzu komme das Unsicherheitsgefühl angesichts ständiger Randale. „Abends brennen die Mülleimer oder die geparkten Autos, in den Supermärkten wird geklaut, wir haben wirklich die Schnauze voll.“ Zum ersten Mal hat Annick die Rechtsradikalen von Le Pen gewählt. „Die kümmern sich wenigstens um uns kleine Arbeiter und versprechen Recht und Ordnung.“

Die 43-Jährige spricht vielen Franzosen aus dem Herzen. Bei einer örtlichen Umfrage vor der Wahl stellte sich heraus, dass 64 Prozent der potenziellen Wähler der Le Pen-Partei Front National die Maßnahmen der Stadt Venissieux zur Bekämpfung der Kriminalität für „völlig unzureichend halten“ und sich eine strengere Justiz und mehr Polizei wünschen. 73 Prozent dieser Wähler finden, dass sich die Behörden zu intensiv um die Einwanderer kümmern. Cyril, ein 20-jähriger Elektriker: „Es gibt zu viele Immigranten, wir haben die Schnauze voll. Die streichen Sozialhilfe ein und Wohnungsgeld, und wir haben nichts, am Monatsende bleiben ein paar Centimes.“ Längst haben die Emotionen, der Sozialneid und die Wut auf herumlungernde arbeitslose „Araber“ und „Schwarze“ die Realität überrundet. Denn schließlich finden 82 Prozent der Einwohner des Problemviertels Minguettes, die überwiegend aus Algerien stammenden Einwohner könnten sich niemals in die französische Gesellschaft integrieren – und wählen Le Pen.

Späte Erkenntnis

Was sagt der kommunistische Bürgermeister André Gerin bei einer Dringlichkeitssitzung des Ortsvereins der Partei, eine Woche vor der entscheidenden Stichwahl? „Ja, wir haben Fehler gemacht.“ Der Genosse Jean Zunino, Physik- und Chemielehrer, erläutert die Versäumnisse: Das klassische Terrain der Kommunisten, die Fabriken, habe die Partei wegen der Schließung vieler Betriebe verloren. Klar ist: Auch die Provinz-Kommunisten werden wie alle anderen Linken, ob knallrot oder rosarot, am nächsten Sonntag zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Partei konservativ wählen, den neogaullistischen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Disziplin zur Erhaltung der Republik. „Völlig verrückt, aber wahr“, findet der Lehrer Zunino.

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