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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban.

© imago/ZUMA Press

Von Polen bis Ungarn: Warum gerät in Osteuropa der Rechtsstaat unter Druck?

In früheren sozialistischen Staaten wird die Gewaltenteilung zunehmend ausgehöhlt. Was geschieht dort genau – und warum? Fragen und Antworten zum Thema.

Nationalpopulistische Protestparteien sind in ganz Europa im Aufwind. Doch in Ost- und Südosteuropa machen sich selbst Regierungen offen daran, Justiz und Medien unter ihre Kontrolle zu bringen, die Rechte von Minderheiten und der Opposition dem Willen und der Macht der Mehrheit unterzuordnen. Demokratische Grundprinzipien wie die Gewaltenteilung scheinen 28 Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs im Osten keineswegs mehr unumstritten.

Inwiefern steht der Rechtsstaat in einigen ex-sozialistischen Staaten unter Druck?

Ob in Polen, Ungarn oder nun in Rumänien: Es ist der teilweise bereits realisierte Versuch von Regierungen, die Justiz unter ihre direkte Kontrolle zu bringen, was deren Unabhängigkeit aushöhlt – und damit die Gewaltenteilung und das Gleichgewicht der Kräfte im Staat bedroht.

In Rumänien will die Regierung mehr Einfluss auf die Staatsanwaltschaft, um die vermehrten Korruptionsermittlungen gegen Amtsträger zu verhindern. In Polen soll das Justizministerium künftig Gerichtspräsidenten nach Belieben abberufen können – und sich damit eine regierungsgenehme Zusammensetzung der Gerichte sichern. In Ungarn sind die Rechte und Zuständigkeiten des Verfassungsgerichts mit der 2011 verabschiedeten Verfassung bereits kräftig beschnitten worden. Gleichzeitig hat die Absenkung des Rentenalters für Richter und Staatsanwälte den Austausch unliebsamer Staatsdiener erleichtert.

Staaten wie Bulgarien oder der EU-Anwärter Serbien scheinen vom Ideal einer unabhängigen Justiz und rechtsstaatlichen Verhältnissen ohnehin noch Lichtjahre entfernt. Eine Justiz nach Maß für die Macht: Regierungspolitiker haben im Südosten des Kontinents nur selten eine Verurteilung vor den ihnen hörigen Gerichten zu fürchten.

Wie ist es um die Presse- und Meinungsfreiheit in Mittel- und Osteuropa bestellt?

Eher schlecht. Die im vergangenen Jahr in Ungarn aus angeblich wirtschaftlichen Gründen eingestellte Oppositionszeitung „Nepszadbadsag“ ist kein Einzelfall. Ob bei EU-Anwärtern wie Montenegro und Serbien oder EU-Mitgliedern wie Bulgarien, Polen und Ungarn: Die Kontrollbegehrlichkeiten der Macht gehen längst über die von den jeweiligen Regierungen gleichgeschalteten öffentlich-rechtlichen TV-Stationen oder staatlichen Nachrichten-Agenturen hinaus. Mit dem Entzug oder der Zuteilung staatlicher Anzeigenaufträge wird die ohnehin schwächelnde Presse gefügig gemacht, mit Lizenzvergaben und Übernahmen durch regierungsnahe Investoren werden selbst einstige Oppositionssender auf Linie gebracht.

Die Rezepte der Medienzähmung variieren, die Resultate ähneln sich: Respektlose Karikaturisten verschwinden von Titelseiten, Qualitätsblätter von den Auslagen der Kioske, kritische Reporter von den Bildschirmen, unbequeme Sendungen aus dem Äther. Die schwierige finanzielle Lage vieler Medien erleichtert den PR-Strategen der Regierungen ihren Würgegriff. Immer mehr Medien mutieren zu harmlosen Flöten oder Lautsprechern der Macht.

Wie steht es um den Schutz der Minderheiten?

Flüchtlinge, aber auch nationale Minderheiten haben in den Staaten Ost- und Südosteuropas schon länger einen schweren Stand. Ungarns Regierung initiiert zum Wohle des eigenen Ratings gar regelmäßig gezielte PR-Kampagnen gegen die ungewollten Immigranten. Aber auch in Tschechien, der Slowakei oder Polen dient beispielsweise die Ablehnung der EU-Flüchtlingsquoten vor allem innenpolitischen Zwecken.

Als größte Minderheit haben die Roma in allen Staaten Südosteuropas schon immer einen schweren Stand. Die Folgen der Jugoslawien-Kriege bekommen derweil noch immer die jeweiligen Minderheiten der Nachfolgestaaten zu spüren. So klagen Albaner oder muslimische Bosniaken in Serbien genauso über Anfeindungen und Diskriminierung wie Serben in Kroatien oder Kosovo. Umgekehrt liegt Ungarn wegen seines sehr aggressiven Einsatzes für die Landsleute in der Diaspora vor allem mit den Nachbarn Rumänien und Slowakei regelmäßig im Clinch.

Welche Schwierigkeiten plagen Opposition und unabhängige Aufsichtsorgane?

„The winner takes it all“ – oder anders gesagt: Die Regierungsmehrheit kann schalten und walten, wie sie will – scheint das Grundprinzip vieler Machthaber der Region. Entweder werden lästige Kontrollorgane wie Kartellbehörden, Ombudsmänner, Datenschutzbeauftragte oder Rundfunkräte weitgehend negiert – oder schnellstmöglich mit hörigen Gefolgsleuten besetzt.

Der Opposition werden notfalls die Mikrofone abgedreht, Untersuchungsausschüsse verweigert oder der Zugang zu den vom Staat kontrollierten Medien wird beschränkt. In Staaten wie Serbien sehen sich Regierungskritiker zudem regelmäßig orchestrierten Schmutzkampagnen der regierungsnahen Boulevardpresse und TV-Sender ausgesetzt.

Ist der in den ex-sozialistischen Staaten zu beobachtende Trend zum Abrücken von demokratischen Prinzipien in Europa eine Ausnahme?

Ja und nein. „Jeder hat seinen Wilders“, konstatiert zu Recht die kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugresic. Tatsächlich sind in ganz Europa populistische Parteien und fremdenfeindliche Propheten im Aufwind – und rutschen wie nun beispielsweise in Österreich immer häufiger auf die Regierungsbank. Wie sich das Prinzip der Gewaltenteilung mit Geld und Macht effektiv aushebeln lässt, hatte Italiens Medienmogul Silvio Berlusconi schon in den 90er Jahren demonstriert. Und auch der Mord an der maltesischen Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galicia hat gezeigt, dass es auch bei südeuropäischen EU-Staaten um die Rechtsstaatlichkeit nicht immer gut bestellt ist.

Ostspezifische Eigenheiten wie sehr starke Regierungsparteien und sehr schwache Staatsinstitutionen gibt es allerdings auch: In Staaten wie Kroatien und Serbien werden Jobs und Führungspositionen noch immer fast ausschließlich nach Parteibuch und kaum nach Qualifikation vergeben. Die Bekenntnisse zu demokratischen Grundwerten wirken bei manchen Machthabern wie ein reines Lippenbekenntnis. Einige zeichnet gar die bewusste Distanzierung von demokratischen Prinzipien und ein bolschewistisch anmutender Drang zum absoluten Gewaltmonopol aus.

Was ist die Motivation, was die Mission oder Rechtfertigung der postsozialistischen Führungseliten?

Einheitlich ist das Bild nicht. Doch ob rechtspopulistische Ex-Dissidenten wie der polnische PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski oder die postkommunistischen Erben von Rumäniens Ex-Autokrat Nicolae Ceausescu: Der unbedingte Wille zum absoluten und ungestörten Machterhalt scheint – zumindest unbewusst – auch von der politischen Sozialisierung im Einheitsparteistaat gespeist.

Nicht nur in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens scheint der einstige Vormann Josip Broz Tito vielen seiner heutigen Diadochen noch immer als Modell und Vorbild eines allgewaltigen Landesvaters zu dienen. Selbst der lange vertraute Satellitenblick zum großen Bruder nach Osten ist bei manchem der zu EU-Skeptikern mutierten Ex-Freiheitskämpfer heute wieder populär: Auffällig unterwürfig wirkt beispielsweise der huldvolle Schmusekurs von Ungarns Premier Viktor Orban gegenüber Kremlchef Wladimir Putin.

Wie reagiert die Bevölkerung?

Der Hang zum starken Mann ist im Osten und Südosten Europas noch immer fest verwurzelt. Laut einer Untersuchung des Belgrader Demostat-Instituts glauben drei Viertel der Serben, ihr Land benötige einen „starken Führer“. Zu einem eher autoritären Politikmodell bekennen sich immerhin 61 Prozent. Der potenzielle Motor gesellschaftlicher Veränderungen – die städtische Intelligenz und junge, gut ausgebildete Fachkräfte – wird hingegen durch die anhaltende Emigration geschwächt. Die Zahl junger Bulgaren, Kroaten oder Ungarn, die im Westen ihr Arbeits- und Karriereglück suchen, scheint sich eher zu mehren als zu mindern.

Wie reagiert die EU?

Auf die fortgesetzten Verstöße Budapests und Warschaus gegen EU-Prinzipien reagiert Brüssel wie ein beleidigt-besorgter, aber machtloser und überforderter Oberlehrer. Empörte Warnungen gehen mit eher hilflosen und jahrelangen Strafverfahren einher. Denn die Höchststrafe, den Klassen- oder Schulrauswurf in Form des Verlusts des EU-Stimmrechts, vermag Brüssel kaum zu verhängen. Zum einen können sich die beiden EU-Störenfriede nicht nur der klammheimlichen Sympathie der anderen Visegrad-Partner, sondern auch ihrer gegenseitigen Veto-Hilfe sicher sein. Zum anderen kann Orban noch immer auf den Rückhalt der deutschen CDU/CSU in den Reihen der konservativen Schwesterparteien der Europäischen Volkspartei (EVP) bauen.

Wer einmal im EU-Klub ist, hat kaum etwas zu befürchten, so die folgerichtige Erkenntnis in Warschau und Budapest. Etwas nachdrücklicher, aber allerdings auch nicht sonderlich konsequent tritt die EU gegenüber den Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan auf. In jährlichen „Fortschrittsberichten“ werden die rechtsstaatlichen und demokratischen Defizite der Anwärterschar zwar regelmäßig kritisiert. Doch Brüssels Emissäre agieren im ermatteten EU-Wartesaal eher als mal lobender, mal tadelnder Grüß-Gott-Onkel denn als gestrenger Ausbilder. Machtpolitische Erwägungen wie die Frage, wie Moskaus Einfluss in der Region zu begrenzen sei, scheinen den opportunistischen EU-Umgang mit den regionalen Politfürsten eher zu prägen als die gerne gepredigten europäischen Werte.

Gibt es dennoch Hoffnung zu einer Umkehr der Entwicklung?

Die demokratische Aufbruchstimmung von 1989 ist in Mittel- und Osteuropa völlig verflogen, auch wenn beispielsweise Polen oder die Slowakei heute über einen Entwicklungsstand verfügen, der selbst beim EU-Beitritt 2004 noch kaum möglich schien. Trotz aller Proteste: In Warschau und Budapest sitzen die Regierungsparteien PiS und Fidesz vorläufig sicher im Sattel – und sind kurzfristige Kursänderungen kaum zu erwarten. Das heftige Tauziehen um die beabsichtigte Zähmung der rumänischen Justiz und die ungekannt großen Massendemonstrationen zu Jahresbeginn sind jedoch auch ein Indiz, dass der von der EU lange vergeblich gepredigte Kampf gegen die Korruption im Karpatenstaat zu greifen beginnt. Schon die trotzige Protestwahl des deutschstämmigen Staatschefs Klaus Johannis wirkte 2014 wie ein Signal. Viele Rumänen wollen keineswegs mehr zum Parteienfilz und in den Korruptionssumpf der neunziger und nuller Jahre zurückkehren.

Thomas Roser

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