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Vor 20 Jahren: Deutsch-Stunden mit Stefan Aust

Wie der frühere „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust die atemlosen Wochen des Umbruchs 20 Jahre später noch einmal an sich vorbeiziehen lässt.

Der junge Mann, den der „Spiegel TV“- Chef am 7. November 1989 mit einem Kamerateam nach drüben, in den nahen, aber allen Westdeutschen fernen Osten an die Mauer schickte, ist heute als Chefredakteur des „Spiegels“ einer der Nachfolger von Stefan Aust. Man dürfte deshalb Georg Mascolo zu den Gewinnern der Einheit zählen. Zu denen gehört aber auch Aust, weil er jene „paradiesischen Zeiten“ des Umbruchs als einmalige Hoch-Zeiten im Leben eines Journalisten atemlos erleben und aktiv mitbewegen konnte.

Genau in dieser einmaligen Atemlosigkeit beschreibt er 20 Jahre danach in seinem Buch „Deutschland, Deutschland“ die damaligen journalistischen Expeditionen zur unbekannten anderen Lage der Nation, die in viele bislang verborgene Lager Ost. Zwei Tage vor dem seitdem endlich auch mal positiven deutschen Novemberdatum, dem historischen Neunten, glaubte 1989 eigentlich niemand mehr, Politiker und Bonner Politdeuter und Bundesnachrichtendienst schon mal gar nicht, an den Fall der Mauer oder gar an eine Wiedervereinigung der 40 Jahre getrennten deutschen Staaten. Journalisten, die wie Aust oder auch der damalige Chefredakteur des „Sterns“ ihrem Instinkt gehorchten, ohne den erklären zu können, hatten deshalb den gütigen historischen Paten Zufall auf ihrer Seite – so wie Helmut Kohl zufällig auf der Kreuzung stand, als ein Mantel der Geschichte an ihm vorüberwehte und er den flugs festhielt –, weil in Berlin das Wunder geschah und die Mauer geöffnet wurde. Geöffnet werden musste – auf Druck der Wut, die lange nur gegärt hatte. Nach Günter Schabowskis inzwischen berühmt gewordenem Versprecher kurz nach 19 Uhr am 9. November 1989, ab jetzt herrsche Reisefreiheit, war sie auch mit Schüssen nicht mehr geschlossen zu halten. Das Volk drängelte und drängte, bis sich die Schlagbäume hoben. Alle wussten, wer jetzt zu spät kommt, den bestraft möglicherweise doch noch das Leben.

Damals war Aust als Triebtäter die treibende Kraft in dem noch jungen – und von den Herren der öffentlichen Meinung im „Spiegel“ als Bastard betrachteten – Magazin „Spiegel TV“, das ausgerechnet im Tuttifruttisender RTL Sonntag für Sonntag in einer für damalige Sehgewohnheiten revolutionären Bildsprache Quote mit Qualität erzielte. So wie sein Übervater Rudolf Augstein für die Redakteure im gedruckten Magazin „Spiegel“ geliebt-gehasste Vaterfigur war, so war er beim Ableger auf der anderen Straßenseite geliebt und gefürchtet von begabten jungen Menschen, mehrheitlich weiblich, jederzeit bereit, sich im Sinne des Ziels, wir sind die Besten!, ausbeuten zu lassen.

Auf mittlerweile auch schon historischen Fotos der „Spiegel TV“-Redaktion wirkt Aust wie ein unentwegt mit den Hufen scharrendes Rennpferd, umgeben von schönen Stuten, die es kaum abwarten können, endlich loszupreschen. Mit dem Fall der Mauer begann das große Rennen. Laufend gab es Woche für Woche Geschichten zu entdecken, die Geschichte machten und die vor wenigen Monaten noch niemand für möglich gehalten hatte. Woche für Woche wurden sensationelle Enthüllungen über das eigentliche Wesen des unheimlichen Staatswesens DDR von der noch sensationelleren Entdeckung am Tag danach übertrumpft.

Geschichten, basierend auf den Sendungen von „Spiegel TV“, die Aust aufblättert, sind auf 286 Seiten aber nicht nur eine Chronik damals laufender deutscher Abenteuer, sondern auch die höchst eigene Geschichte seines nach wie vor geliebten Sohnes „Spiegel TV“ und die der journalistischen Leidenschaft – man könnte die auch Wahnsinn nennen –, in der von dessen heranwachsender Familie neue Kinder gezeugt wurden. Aust braucht dafür keine Sprachgewalt. Es genügt ihm, Kapitel für Kapitel, die gewaltigen Ereignisse für sich sprechen zu lassen.

Der erste Satz des Kommentars, wenn auch auf RTL, den Aust in der Nacht des Mauerfalls sprach, der hieß: „Das war der Tag, an dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging.“ Zuvor hatte der legendäre Hanns Joachim Friedrichs in seiner kühlen Art die ARD-„Tagesthemen“ mit der Nachricht eröffnet „Die Tore in der Mauer stehen weit offen“, worauf sich Zehntausende von Ostberlinern, die nur den Informationen aus dem Westfernsehen glaubten, auf den Weg nach drüben in die einigende Nacht der freudetränend glücklichen Deutschen machten. Den Weg zur tatsächlichen Einheit beschreibt Aust in kleinen Geschichten aus jenen Zeiten, denen alle Deutschen entronnen sind. Entronnen aufgrund mutiger Ossis, denn die allein haben, angestoßen von Gorbatschow, mutig die Revolution gewagt, die Wessis dabei nur staunend zugeguckt. Nach der Stunde der Aufrechten schlug die Stunde der Journalisten. Es ließ sich vor Ort viel enthüllen, es war ein Dorado für investigative Reporter, die ihren Beruf liebten, und nicht – wie zu viele heute – einen anderen schwänzen.

Unvergessen, als die Seniorenresidenzen der RAF versendet wurden, jene Plattenbauten, in denen die allgegenwärtige Krake Stasi ihrer Gesinnung ähnliche Altkader einer vorgeblich revolutionären Bewegung aus dem Westen mit falscher Identität versorgt und genährt hatte. Unvergessen, als journalistische Trüffelschweine herausfanden, dass sich die Geheimen Ost so weit entblödet hatten, Geruchsproben von Aufmüpfigen in Einweckgläsern zu archivieren, auf dass im Falle eines Falles, falls nämlich die in Internierungslager verbracht werden sollten, die abgerichteten Bluthunde jagend ihre Spuren aufnehmen konnten. Unvergessen, als gefeierte Helden der Revolution wie Wolfgang Schnur und Ibrahim Böhme, einer die Hoffnung der Christdemokraten, einer die der SPD, von ihrer Vergangenheit als Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit entlarvt wurden.

Aust beschränkt sich darauf, was klug ist aufgrund der Fülle des Materials, mit vielen schnellen Blitzen die deutsche Bühne zu erkeuchen, auf der das Theaterstück namens Einheit aufgeführt worden ist, enthält sich eines abschließendes Urteiles, denn noch läuft die Deutschland-Inszenierung vor allerdings nur selten noch ausverkauftem Haus. Er holt einfach die Bilder zurück aus den kollektiv im Hippocampus gespeicherten Erinnerungen, macht sie subjektiv wieder nacherlebbar. Wie es begann im Sommer der Sehnsucht. Wie im Herbst die Ohnmächtigen den Schritt in die Macht wagten und über die bis dahin Mächtigen siegten. Wie so viele alltägliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit im real existierenden deutschen Sozialismus zutage kamen, egal, ob nun in der dreckigsten Region Europas in Bitterfeld, ob im gefürchteten Zuchthaus Bautzen, genannt das „Gelbe Elend“, ob in Wandlitz, dem Getto der verdorbenen Greise, angeführt vom Genossen Erich H., der gepökeltes Kassler so liebte wie Softpornovideos und seinen spießigen Sozialismus, den angeblich weder Ochs noch Esel aufhalten konnten.

Weil heute das untergegangene Regime verklärt wird, obwohl dessen diktatorischer Mief zwar vielen stank, aber es andererseits in dem schön warm gewesen ist, weil sichere Arbeitsplätze in der DDR nachgetragen wichtiger sind als Freiheit, die täglich erobert werden muss wie eine schöne Geliebte, ist heute aus der Lust des Anfangs vielerorts Frust geworden.

Auch dagegen helfen Momentaufnahmen erlebter Geschichte, das Tagebuch von Expeditionen in einem untergegangenen Land. Viele Erinnerungen, Einzelheiten, Farbtupfer ergeben ein Bild in einem deutschen Rahmen, aufgehängt zur gefälligen Betrachtung 20 Jahre danach. Was aber nicht bedeutet, dass dieses Bild von Deutschland das einzig gültige ist. Mit den Farben der Palette lässt sich auch ein anderes malen. Es kommt, wie meist im Leben, auf die Perspektive an.

Ein Journalist, der notiert, wonach es roch, wie es schmeckte bei den Geburtswehen des sich in die Einheit pressenden Deutschland, hat ein anderes Bild als der Historiker, der sich sein Bild aus Akten komponiert. Reporter, die damals Augenzeugen der Revolution befragten, den Zustand des Landes in einer Nussschale filmten, die Politikern und Zeitgeschichtlern als zu klein erscheint, weil sie das große Ganze im Auge haben, haben als ihr Handwerk gelernt, dass nichts Menschen mehr fesselt als Geschichten über Menschen.

Das nennt man, unter uns Handwerkern, erlebte Geschichte.

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