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Akif Kilic wurde 1976 in Siegen geboren, wo sein Vater als leitender Klinikarzt arbeitete. Abitur machte Kilic, der aus einer politischen Familie stammt - der Großvater war sozialdemokratischer Abgeordneter, ein Onkel ist Botschafter in Washington - an der Deutschen Schule in Istanbul und studierte dann Politik und Wirtschaft in England. Er war mehr als acht Jahre lang Berater und Vize-Büroleiter von Premier Erdogan; im Kabinett von dessen Nachfolger Davutoglu wurde er Minister für Jugend und Sport.

© Mike Wolffl

Vor Merkels Türkei-Besuch: "Die EU braucht die Türkei mehr als umgekehrt"

EU, Syrien und Flüchtlinge: Akif Kilic, Minister der Regierung in Ankara und langjähriger Berater von Staatspräsident Erdogan, über die neue Rolle der Türkei

Hilfen für die Türkei, um syrische Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, dafür neuer Schwung in den Beitrittsverhandlungen und Milliardenhilfen aus Brüssel – stimmt es, wie ein Grüner im Europaparlament jetzt sagte, dass mit den Gipfelbeschlüssen der EU diese Woche erstmals anerkannt wurde, dass die Türkei und die EU sich gegenseitig brauchen? 

Die Türkei ist Teil Europas und Partnerin der EU, aber auch eine politische und kulturelle Brücke: zwischen Europa und dem Nahen Osten wie Richtung Nordafrika.  Offen gesagt, es stimmt, was wir, was Präsident Erdogan nicht erst jetzt sagt: Die EU braucht die Türkei mehr als umgekehrt. 

Ist das nicht im Augenblick etwas anders? Die AK-Partei des Präsidenten steht im Wahlkampf und eine EU, die nicht mehr täglich die Pressepolitik bemängelt oder die neuerdings repressive Kurdenpolitik, dürfte da doch eine gute Wahlhelferin sein? 

Ich fürchte, es ist ein Problem der Europäer, auch Deutschlands, das Kürzel PKK immer noch wörtlich zu übersetzen, als Kurdische Arbeiterpartei. Sie ist aber keine politische Partei, sondern eine Terrororganisation. Und der Terror hat weder Ethnie noch Religion. 

Es hat also auch nicht mit Politik, nämlich mit der im Juni – wegen der kurdischen Partei HDP – für Erdogan verlorenen Wahl zu tun, dass im Monat darauf die jahrelang auf Ausgleich gerichtete Politik Ankaras aufs Militär setzte? 

Einspruch: Nicht Erdogan hat im Juni verloren, er wurde im Gegenteil im August letzten Jahres zum Staatspräsidenten gewählt, zum ersten Mal in der türkischen Geschichte direkt, und bekam 52 Prozent. Und die AK-Partei ist immer noch die weitaus stärkste Partei, wir haben im Juni lediglich die absolute Mehrheit verloren. Den Auftrag, das Land zu führen, haben wir weiterhin. Wir haben versucht, eine Koalition einzugehen, aber das gelang nicht. Deshalb ist die Neuwahl am 1. November nötig. 

Sie hatten eigentlich ausreichend mögliche Partnerinnen – was war der Grund? 

Die nationalistische MHP hat es noch in der Wahlnacht abgelehnt, mit uns zu regieren. Auch die HDP, die als so demokratisch gilt, hat es sofort abgelehnt. Die sozialdemokratische CHP..

.. die kemalistisch geprägt ist…

…äußerte sich eher lau, entschied aber später, lieber einem 60-Prozent-Block gegen uns beizutreten. Wir hatten verhandelt, dabei blieben aber einige sehr tiefe Meinungsverschiedenheiten.

Und dann setzte man auf die Militarisierung der Kurdistanpolitik, üblicherweise ein Mittel in der Politik, das Volk hinter der Regierung zu einen.

Nein, es ist etwas passiert: Der 20. Juli war ein Wendepunkt. Da wurden zwei Polizeioffiziere in ihren Wohnungen hingerichtet. Ich sage bewusst nicht: ermordet. Sie wurden in den Hinterkopf geschossen. In dieser Lage kann der Staat nicht zuschauen. 

Er könnte auch sagen: Hier will mich wer provozieren. Und könnte bewusst deeskalieren. 

Sie brauchen aber eine Antwort darauf. Wir haben viel Geduld gezeigt, aber das geht nicht ewig. Die andere Seite muss mitziehen. Die Befriedungspolitik des damaligen Premiers Erdogan…

… der nach den blutigen Jahrzehnten der Repression zu Beginn seiner Regierungszeit erstmals auf Ausgleich setzte… 

… war seinerzeit sehr mutig. Er wurde stark dafür kritisiert und ging ein hohes politisches Risiko ein. Ein Politiker braucht Konsens, es war nicht klar, ob der ausreichend vorhanden sein würde. 

Aber es gab ihn. Und nun soll alles anders sein? 

Wir haben immer gesagt: Die PKK-Terroristen müssen die Türkei verlassen. Aber Herr Demirtas, der führende Mann der DHP, der als großer Friedensfreund gilt, hat schon vor den Anschlägen in Ankara am 10. Oktober seine Anhänger aufgefordert, auf die Straße zu gehen.

Was sich ja als Aufforderung zu demokratischem Protest lesen ließe. 

Dann muss man auch sagen, dass der Protest friedlich sein soll. Sein Aufruf war aber ein Aufruf zum Aufstand. Gegen das eigene Land. 

Da Sie der HDP so harte Vorwürfe machen: Werden Sie ein Parteiverbot versuchen? 

Nein, damit hat die Türkei schlechte Erfahrungen gemacht. Die AKP selbst war ja noch als regierende Partei von einem Parteiverbot bedroht. Nein, wir haben die Haltung: Verantwortlich sind Personen, nicht Parteien. Erdogan, dem so oft undemokratisches Verhalten vorgeworfen wird, war der erste, der das gefordert hat. 

Sie übertreiben. Er und die AKP hatten nicht immer schlechte Presse. 

Ich spreche nicht von früher, sondern von heute. Und da muss ich feststellen, dass einige Kritik nicht sehr objektiv ist. 

Wenn Sie – auch Sie persönlich – an diesem Sonntag die Kanzlerin in Ankara empfangen: Was steht auf der türkischen Agenda? 

Das ist natürlich Sache des Premiers und des Außenministeriums. Aber man darf wohl davon ausgehen, dass die Flüchtlingsfrage Thema Nummer eins wird. Und ganz klar werden unsere Verhandlungen mit der EU auf dem Tisch sein.

Punkt eins, die Flüchtlinge: Wie sehen Sie die Haltung der EU, die von Ihnen, dem Land mit den meisten geflohenen Syrern im Land, nun auch verlangt, dass sie sie bei sich halten? 

Wir haben 2,5 Millionen syrische Staatsbürger in der Türkei, übrigens nicht nur in Lagern, sondern auch mitten unter uns, zum Beispiel in der Gegend meines Wahlkreises am Schwarzen Meer. Aber nicht nur Syrer, auch aus dem Irak fliehen Menschen zu uns - wir haben mit beiden Ländern eine 1.300 Kilometer lange Grenze. Bemerkung am Rande: Diese Grenzen sind oft keine natürlichen, sondern wurden von außen und auch von europäischen Playern gezogen. 

Sie meinen: koloniale und halbkoloniale Grenzen? Noch einmal: Wie beurteilen Sie die Haltung der EU? 

Wir haben eine menschliche Verantwortung für Menschen, die vor einer Diktatur und um ihr Leben flüchten. Da fragen wir nicht, was die andern tun oder lassen. Aber selbstverständlich muss man sich die Frage der Lastenteilung stellen. Einer Verteilung innerhalb Europas, dessen Teil wir sind. 

Und die ist wie? 

Ich würde sagen: Nicht auf dem Niveau, wie sie sein könnte und sollte. 

Wollen und können Sie die Erwartung der EU erfüllen, die Leute bei sich zu behalten?

Ich nehme an, dass die meisten selbst bleiben wollen Stichwort Heimat. Sie hoffen natürlich, dass das Assad-Regime an sein Ende kommt und sie zurückkönnen. Es gibt aber auch Menschen, die weiterziehen werden wollen. 

Und die werden Sie dann notfalls mit Gewalt daran hindern? 

Das ist eine Frage der Menschenrechte. Wer weiter will, den wird man nicht hindern können und dürfen. Lassen Sie uns aber festhalten, dass die Flüchtlinge sowieso nicht das Problem sind. Sie sind ein Resultat des Problems. Und das heißt Assad.. Daran müssen wir arbeiten, wenn wir wollen, dass die Leute nicht mehr flüchten müssen, um ihr Leben zu retten. 

Was heißt das in der aktuellen Lage? Die Forderung Ihres jetzigen Staatspräsidenten nach Ablösung von Assad hatte seinerzeit wenig Effekt. Was schlagen Sie nun vor? 

Die EU sagt bisher nur, mit Assad gehe es nicht. Sie hätte jetzt die Chance zu zeigen, dass sie ein politisches Schwergewicht ist. 

Diplomatisch oder militärisch?

Auch Militär ist eine Option, kein Einmarsch natürlich, aber Assads Macht und Kräfte müssen eingehegt werden. Die syrischen Bürger brauchen Orte, wo sie im eigenen Land überleben können. 

Also Schutzzonen? 

Ja. 

Der zweite Punkt, nicht nur am Sonntag: Die EU. Wie soll es weitergehen, jetzt nachdem das lange verschlossene Europa Ihnen die Türen sperrangelweit zu öffnen scheint? 

Zunächst müssen einige führende Köpfe in Europa verstehen, dass die Türkei der EU sehr nützen kann, dass sie nicht nur in der Flüchtlingsfrage, sondern auch regionalpolitisch und ökonomisch eine Schlüsselmacht ist. Und wir erwarten dieselbe Offenheit und Ehrlichkeit in den Beitrittsverhandlungen, die wir einbringen. Die Kanzlerin übrigens war immer sehr klar: Als Parteichefin äußerte sie sich offen gegen den Beitritt meines Landes, als Kanzlerin machte sie klar: Pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten. Die Rhetorik der Religion, derzufolge die Türkei nicht zu Europa passe, muss aufhören. Das hilft Hetzern und Fremdenhassern, aber niemandem sonst, auch Europa selbst nicht. 

Was fordern Sie? 

Wir waren jahrelang im Wartezimmer – obwohl wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. Wir wollen jetzt ins Arbeitszimmer. Und zwar zu korrekten Bedingungen. Wie Erdogan schon einmal richtig sagte: Das Spiel hat längst begonnen, die Regeln lassen sich nicht mittendrin ändern. 

Und am 1. November wird zum zweiten Mal in diesem Jahr in der Türkei gewählt? 

Ja sicher. 

Trotz des Anschlags? Es gab Zeitungsberichte, die Wahl könnte deshalb verschoben werden. 

Ach ja, es gibt immer Gerüchte! 

Umfragen von Anfang Oktober besagen, das Kalkül der AK-Partei werde nicht aufgehen, die Parteistärken sind unverändert seit Juni, eine neue absolute Mehrheit also fern. Und der schlimmste Anschlag in der Geschichte der Türkei vom vergangenen Wochenende mit mehr als 100 Toten, mitten in Ankara, könnte die Kräfte eher gegen die Regierung verschieben. 

Dieser Anschlag war fürchterlich, aber er wird aus meiner Sicht keinen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Terror kann überall zuschlagen – denken Sie an die Anschläge auf die Londoner U-Bahn. Und verschieben können wir doch gar nicht: Die Auslandstürken, auch in Deutschland, wählen längst, seit dem 8. Oktober. Die Wahl findet definitiv statt.

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