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Politik: „Wabernde Ängste“

Experte Segbers über die Motive der Wähler

Im Vergleich zu den Referenden über den EUBeitritt war die Beteiligung in den neuen Mitgliedstaaten bei der Europawahl sehr niedrig. Gewonnen haben vor allem Oppositionsparteien. Warum?

Der Unterschied zwischen der Wahl am Sonntag und den Referenden ist der, dass wir beim Volksentscheid eine klare Abstimmungssituation hatten. Es ging um den Beitritt – Ja oder Nein –, sonst stand nichts zur Debatte. Ein Kernproblem jeder Europawahl aber ist, dass es keine klare Abstimmungssituation gibt. Deshalb stimmen faktisch alle Gesellschaften über die nationalen Regierungen ab. Die Parteien machen ja leider auch mit Themen Wahlkampf, die mit Europa nichts zu tun haben. Das ist in Budapest das selbe Problem wie in Rom, Prag oder Paris.

Dass sie erst einige Wochen EU-Mitglieder sind, hat bei den Osteuropäern kein größeres Interesse auslösen können?

Die paar Wochen seit dem Beitritt sind keine hinreichende Zeit, um eine Bilanz ziehen zu können. Generell ist das Wissen über die europäischen Fragen sehr begrenzt. In den Beitrittsländern erhoffen sich die Menschen viel von Europa. Dass damit auch Verpflichtungen einhergehen, wird oft weniger gesehen. Und in allen Ländern gibt es soziale Gruppen, die zu Recht argwöhnen, dass sie nicht zu den Gewinnern des Beitritts gehören. Diese sind leicht zu mobilisieren. Stellt man das in Rechnung, in Polen mehr als in den baltischen Ländern, hat man eine weitere Erklärung für das Wahlergebnis.

Warum haben hier nicht nur Oppositions-, sondern vor allem europakritische Parteien solchen Zulauf?

Die osteuropäischen Länder haben große Mühe, den Beitrittsschritt kollektiv nachzuvollziehen. Erst Anfang der 90er haben sie aus sehr geringer Souveränität herausgefunden. Der EU-Beitritt, den die Regierungen oft mit knapper Mehrheit der Bürger beschlossen haben, bedeutet, dass sie sich wieder von Teilen ihrer neu gewonnenen Souveränität trennen müssen. Und gegen wabernde Ängste vor anonymen Bürokratien in Brüssel, die auch in den alten Ländern eine Rolle spielen, lässt sich leicht mobilisieren.

Wird jetzt die Diskussion über die EU-Verfassung neu aufgerollt?

Wenn Polens Minderheitenregierung im Parlament erneut die Vertrauensabstimmung verliert, stehen Neuwahlen an. Was dann geschieht, kann niemand voraussagen. In anderen osteuropäischen Ländern sehe ich diese Gefahr aber nicht.

Das Gespräch führte Ruth Ciesinger

Klaus Segbers ist

Professor am

Osteuropa-Institut der FU-Berlin. Der Politikwissenschaftler forscht unter anderem zum Wählerverhalten in osteuropäischen Ländern.

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