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Politik: Wähler sucht Partei

Vor der Parlamentswahl vermissen viele Türken ein schlagkräftiges Mitte-links-Bündnis

„Linksparteien, vereinigt euch“: Als sich am Wochenende mehrere hunderttausend Menschen in Izmir zur Großdemonstration versammelten, riefen sie nicht nur Parolen gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Partei AKP. Sie forderten auch die Bildung eines starken Mitte-links-Blocks, der Erdogans AKP bei den Wahlen am 22. Juli ablösen könnte. Der Appell an die Linke hatte einen guten Grund: Die kemalistischen Parteien bieten derzeit weder personell noch inhaltlich eine attraktive Alternative. Zum ersten Mal seien nicht Parteien auf der Suche nach Wählern, sondern Wähler auf der Suche nach einer Partei, kommentierte eine Zeitung am Montag.

Die Kundgebungen gegen Erdogan in den vergangenen Wochen haben gezeigt, dass Millionen von Türken die AKP ablehnen. Erdogan wird vorwiegend von frommen und konservativen Kleinbürgern gewählt und kann fest mit der Unterstützung dieser zahlenmäßig sehr starken Gruppe rechnen. Die Erdogan-Wähler – je nach Umfrage zwischen 30 und 40 Prozent – hätten bereits ihre Wahlentscheidung getroffen, schrieb der Kommentator Mehmet Tezkan in der Zeitung „Vatan“. Aber der Rest sei noch auf der Suche.

Während sich auf der rechten Seite des Zentrums ein Block aus zwei bürgerlich-konservativen Parteien gebildet hat und derzeit mit etwa 15 Prozent der Stimmen rechnen kann, ist die nationalistische Linke nach wie vor gespalten. Die als islamistisch kritisierte Erdogan-Partei erscheint mit ihrem demokratischen Reformprogramm als modern und EU-freundlich, während die Kemalisten, die sich selbst für westlich und fortschrittlich halten, als Reformbremser und engstirnige Nationalisten auftreten. Personifiziert wird das derzeitige Negativimage der Linken durch Deniz Baykal, dem Chef der Republikanischen Volkspartei (CHP). Die CHP ist die stärkste Oppositionskraft im Parlament. Der 68-jährige Baykal versteht sich als Anführer der Kemalisten, doch er hat sich selbst bei den Anhängern seiner eigenen Partei als Populist und EU-Gegner unbeliebt gemacht. Auf der Oppositionsbank trug Baykal in den letzten viereinhalb Jahren zwar viele Reformvorhaben der Erdogan-Regierung mit, brachte von sich aus aber kaum konstruktive Vorschläge auf den Tisch. Seine Rezepte für eine CHP-geführte Regierung werden sogar von der regierungskritischen Presse verrissen. So verspricht Baykal großzügige staatliche Hilfen für alle Türken. Wo er die rund 34 Milliarden Euro für sein Sozialprogramm hernehmen wolle, sage Baykal aber nicht, kritisierte die Zeitung „Radikal“ kürzlich.

Die Hauptwaffe des CHP-Chefs im Wahlkampf ist deshalb nicht das eigene Programm, sondern die Warnung vor der angeblichen islamistischen Unterwanderung des Staates durch die Erdogan-Leute und vor dem Ausverkauf des Vaterlandes durch deren Privatisierungen und Wirtschaftsreformen. Ängste zu schüren, wird aber kaum ausreichen, um die CHP zur stärksten Kraft im neuen Parlament zu machen. Die Partei liegt derzeit bei etwa 15 Prozent und damit noch vier Prozentpunkte hinter ihrem Wahlergebnis von 2002. Deshalb strebt Baykal ein Bündnis mit zwei kleineren Linksparteien an, der SHP und der DSP, der Partei des im November gestorbenen Ex-Premiers Bülent Ecevit. Bei der Demonstration in Izmir konnten sich Baykal und seine Kollegen von den anderen Linksparteien indes nicht einmal zu einem gemeinsamen Auftritt durchringen.

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