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Sprachregelung. „Wenn ich Premier bleibe, dann bin ich ja nicht weg aus Europa“, sagt Jean-Claude Juncker. Eine der Antworten auf die immer gleiche Frage, die ihm zurzeit gestellt wird. Foto: Eric Herchaft/laif

© Eric Herchaft/Reporters/laif

Wahl in Luxemburg: Juncker und das Europa-Problem

Jean-Claude Juncker wird die Gerüchte nicht los: Es heißt, er wolle zurück in die Europapolitik. Das wird für den Vorzeige-Europäer im eigenen Wahlkampf zur Falle.

Jean-Claude Juncker nimmt seine Wähler in den Arm. Küsschen links, Küsschen rechts, Küsschen links. Fast tausend Menschen sind an diesem Oktoberabend gekommen, um ihn zu sehen – und alle wollen ein Foto. „Jean-Claude“, wie sie ihn nennen dürfen, nimmt sich Zeit. Ältere Damen kichern wie junge Mädchen, wenn der Premier ihnen zulächelt. Vorne im Saal steht sein Vater, er klopft dem berühmten Sohn, der selbst schon tiefe Falten im Gesicht hat, ermutigend auf die Schulter. Es ist Wahlkampf in Luxemburg und hier in der Stadt Esch-sur-Alzette im Süden des Landes, bei „Juncker on Tour“, ist alles noch so, wie es immer war. So scheint es jedenfalls.

Aber wenn Juncker nah ist, sieht er müde aus. Sehr müde sogar.

„Wenn Sie Zeitung gelesen haben“, beginnt er seine Rede, „dann wundern Sie sich wahrscheinlich, wieso ich heute Abend überhaupt hier stehe.“ Es ist ein merkwürdiger Satz für einen Mann, der seit immerhin 18 Jahren Regierungschef ist, für einen Premier, der Küsschen verteilt, nicht zuletzt, weil er am kommenden Sonntag wiedergewählt werden will.

Zwei Tage zuvor bei einer Veranstaltung einer Zeitung in Luxemburg Stadt: Der Moderator hat sich die Frage bis ganz zum Schluss aufgehoben. Es geht ihm um eben jenes, was in den Zeitungen diskutiert wird. „Herr Premierminister“, setzt er an. Juncker, bis zu diesem Moment im Sessel weit zurückgelehnt, rutscht zur Kante vor. „Demnächst werden in Europa wieder Spitzenposten frei. Wollen Sie wirklich hierbleiben?“ Diese Frage. Er hat sie so oder so ähnlich in den vergangenen Wochen schon oft gestellt bekommen. Juncker seufzt.

Er wird die Gerüchte einfach nicht los. Immer wieder heißt es, er, Ex-„Mr.Euro“, könne der nächste Präsident der Europäischen Kommission werden. Dann wäre er weg aus Luxemburg, zurück auf der großen Bühne der Europapolitik. Auf der hat er sich immer wohlgefühlt. Weshalb ihm niemand ganz und gar glauben mag, wenn er antwortet: „Nach dieser Wahl gibt es für mich nur zwei Möglichkeiten. Premier oder Opposition hier in Luxemburg. Ein europäisches Amt interessiert mich nicht mehr.“

Luxemburg war immer ein Land von Europa-Euphorikern. Gerade mal 500 000 Menschen leben hier, seit jeher muss sich das Herzogtum mit anderen verbünden, um bestehen zu können. Luxemburg ist auch nicht irgendwer in der EU, es ist von Anfang an dabei gewesen, Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, aus der die Europäische Union wuchs. Früher arme Bauern, kamen die Luxemburger durch den Stahl zu Geld, später kamen die Banken und mit ihnen noch mehr Geld. Über der Stadt auf dem Kirchberg thronen der Europäische Gerichtshof und einige andere EU-Institutionen. Man kann die hohen Gebäude von überall aus sehen. Europa gab Luxemburg eine Stimme.

Ein begeisterter Europäer zu sein, ist demnach für Luxemburger Politiker eigentlich höchste Bürgerpflicht. Und Jean-Claude Juncker verkörpert dies mehr als jeder andere. Stolz blickten Einwohner des zweitkleinsten EU-Mitglieds – nur Malta ist noch kleiner – in den vergangenen Jahren auf ihren Premierminister, der international so erfolgreich war. Wie die meisten Luxemburger spricht er neben Letzebuergesch auch fließend Deutsch und Französisch. Er verhandelte schon mit Helmut Kohl, später, als Euro-Gruppenchef, rettete er Griechenland. Und gewann wie nebenbei in Luxemburg Wahl um Wahl. Bis zu diesem Sommer und einer bizarren Affäre um den nationalen Geheimdienst. Da sah es plötzlich so aus, als habe er vor lauter Europaliebe zu Hause nicht mehr alles im Griff. Oder noch schlimmer: als wäre es ihm nicht so wichtig.

Nun ist Juncker zwar wieder als Spitzenkandidat der Konservativen angetreten, und seine Partei regiert seit 30 Jahren – doch diesmal scheint die Sache nicht so sicher wie all die Jahre zuvor. Es ist etwas zerbrochen zwischen vielen Luxemburgern und ihrem Staatschef. Gut die Hälfte der Wähler wünscht sich laut Umfragen einen Wechsel. Und das in einem Land, dessen Wahlspruch ist: Wir wollen bleiben, was wir sind. Das ist neu für Juncker.

Dabei hatte er die Geheimdienstsache am Anfang gar nicht so ernst genommen, erzählen andere aus der Luxemburger Politik. Doch dann wurden die Details, die ein Untersuchungsausschuss im Parlament zutage förderte, immer abenteuerlicher. Der luxemburgische Geheimdienst soll über Jahre ein unkontrolliertes Eigenleben geführt haben. Er handelte illegal mit Autos, legte eigene Goldreserven an, wollte einen kritischen Staatsanwalt mit fingierten Pädophilie-Vorwürfen wegmobben und hörte einmal sogar den Premierminister mithilfe einer präparierten Armbanduhr ab. Was klingt wie ein schlechter Krimi, wurde für Juncker zum echten Problem. Er ist qua Amt der Chef des Dienstes. Zwar stoppte er die Aktivitäten, meldete sie aber nicht dem Parlament. Disziplinarverfahren gab es auch keine. Als alles aufflog, sah er schlecht aus, sein Koalitionspartner rückte von ihm ab. Es wurde gefährlich.

Wenn es Probleme gibt, soll der Staatchef nicht "immer im Ausland rumturnen"

Im Gespräch mit den Moderatoren der Luxemburger Zeitungsveranstaltung blickt Juncker häufig angespannt nach rechts, dort sitzt sein bisheriger Wirtschaftsminister, Etienne Schneider, 42, Sozialdemokrat. Jung, groß, breitschultrig, sportlich. Der wagt geradezu Erstaunliches: Er will Premierminister werden und sagt das auch. Das hat sich vor ihm noch keiner getraut. Die Frage war stets: Wer wird Juniorpartner an der Seite des großen Juncker? Schneider will den dienstältesten Premier Europas stürzen.

Wer Schneider auf eigenen Wahlkampfveranstaltungen über Juncker reden hört, für den entsteht das Bild eines Mannes, der einfach nicht von der Macht lassen kann, sie aber so interpretiert, wie es ihm gefällt. Schneider zufolge war nach dem Skandal um den Geheimdienst ausgemacht, dass die Regierung geschlossen zurücktreten solle. Doch dann tat Juncker etwas, womit niemand rechnete: Er kündigte zwar an, den Großherzog – etwa vergleichbar mit dem Bundespräsidenten in Deutschland – um Neuwahlen zu bitten. Er trat aber nicht zurück. Luxemburg rätselte, ob das überhaupt geht, Neuwahlen ohne Rücktritt. Es ging. Die Regierung und das Parlament blieben im Amt. Der Großherzog verlegte den Wahltermin letztlich einfach vor – von Mai 2014 auf Oktober 2013.

Schneider spricht häufig über die Missstände im Land: eine wachsende Arbeitslosigkeit, steigende Staatsverschuldung, zu wenig Wohnraum. Schon jetzt müssen viele Menschen ins deutsche Grenzland ziehen, weil sie sich Luxemburg nicht mehr leisten können. Dazu eine Wirtschaft, die sich stark auf Banken stützt, was in Zeiten der Euro-Krise auch nicht mehr besonders bequem ist. Ein Anhänger der Sozialdemokraten schimpft: „Vor lauter Europa hat sich Juncker in den letzten Jahren doch kaum noch um Luxemburg gekümmert!“ Jetzt, wo auch in Luxemburg die Probleme wachsen, brauche das Land einen Chef, der nicht ständig im Ausland rumturne. Für die EU-Politiker, die nach Luxemburg auf den Kirchberg kommen, aber fast nie mal runter in die Stadt, gibt es in Luxemburg einen Namen. Die Leute nennen sie Aliens.

Erstmals formt sich in Luxemburg nun so etwas wie eine Gegen-Dreierkoalition. Der Wechsel könnte klappen, wenn die Sozialdemokraten mit den Grünen und den Liberalen zusammengehen. Insgesamt hat das luxemburgische Parlament 60 Sitze, bei der letzten Wahl 2009 kamen die drei Parteien zusammen auf 29. Nur zwei Sitze mehr, darauf hoffen sie.

„Juncker on Tour“, die Wahlkampagne des Premiers, hält mit aller Macht gegen die Wechselstimmung. Überdimensional ist Juncker überall im Land plakatiert: Zesummen fir Letzebuerg. Zusammen für Luxemburg. Juncker ist immer noch das strahlende und das einzige Gesicht seiner Partei. Bei der letzten Wahl holte seine CSV grandiose 26 Sitze. Ihre Schlagworte heißen Sicherheit und Vertrauen.

Die Juncker-Anhänger finden die Auftritte Etienne Schneiders anmaßend. Vor zwei Jahren erst in die Regierung nachgerückt, noch nie eine Wahl gewonnen. Wer kennt den schon in Europa? Wie welche Partei momentan in der Wählergunst steht, weiß aber niemand, weil es einen Monat vor der Wahl in Luxemburg keine Umfragen mehr geben darf.

Wolfgang Schäuble lobt Juncker: "Er ist einer, der sich kümmert."

Als Juncker am Wahlkampfabend im Süden redet, beschwört er seine Anhänger mit leiser Stimme. Die Euro-Krise sei noch nicht vorbei, Luxemburg brauche ein großes Gewicht im Ausland. Juncker erzählt, wie er mal mit dem chinesischen Staatschef zusammensaß und gewitzelt hat: „Du und ich, wir vertreten zusammen zwei Drittel der Menschheit.“ Der Saal lacht, die Botschaft kommt an. Nur mit Juncker, der locker mit den Größten scherzt, bleibt das kleine Luxemburg international auf Augenhöhe. Er, der sich in einer Rede mal selbst einen „Dinosaurier und alten Tanker“ genannt hat, warnt heute vor den „politischen Verrücktheiten“ der Gegenseite.

Nach seiner Ansprache bekommt Juncker minutenlang stehende Ovationen. Er steigt von der Bühne. Sein Vater, der früher in der Region im Stahlwerk arbeitete, strahlt. Seine einfache Herkunft betont Juncker gern, er gibt sich für einen Konservativen so sozial, dass die Sozialdemokraten immer Probleme hatten anzugreifen. Viele Menschen im Süden Luxemburgs lieben ihn. Den Glanz, den sein Ruhm auch für die Region bringt, gerade bei den Nachbarn Frankreich und Deutschland. Anfang November wird Juncker von den Deutschen wieder für sein Europa-Engagement geehrt werden, über hundert dieser Ehrungen sind es schon. Sein politischer Freund Wolfgang Schäuble sagt: „Er ist einer, der sich kümmert. Der nicht abgehoben ist, das merken die Menschen.“ Und: Es wäre schade, wenn ein Mann von seinem Potenzial keine internationalen Aufgaben mehr übernehme.

Wenn man Juncker von Schäubles Lob erzählt, lächelt der ein wenig müde und sagt: „Wenn ich Premier bleibe, dann bin ich ja nicht weg aus Europa.“

Anfang dieses Jahres trat er nach acht Jahren vom Posten des Euro-Gruppenchefs zurück. Mit nur 58 Jahren, in einem Alter, in dem andere Politiker ihre ersten Wahlen gewinnen, ist er seit 32 Jahren in der Politik. Außer der, heißt es, habe Jean-Claude Juncker keine Hobbys.

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