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Wahl in Niedersachsen: Aus der Deckung

Der SPD soll er als neuer Ministerpräsident in Niedersachsen den Weg ebnen – zurück an die Macht im Bund. Doch Stephan Weil ist ein Hoffnungsträger der sonderbaren Art, kantig und trocken. Die Aussicht auf diesen Triumph ist seine einzige emotionale Botschaft. Der Rest ist Solidität.

Irgendwann im Sommer 2011 hat er morgens in den Spiegel geschaut und es endlich für sich entschieden, ohne nochmals mit der Ehefrau zu reden. Die schwierigen Dinge macht er mit sich allein aus. Jetzt, wo er diese Geschichte erzählt, sitzt er in seinem silbernen VW-Wahlkampfbus, hat die Beine auf der Rückbank übereinandergelegt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er macht das immer so, wenn er signalisieren möchte, er sei entspannt. Er sagt: „Wenn man die Chance hat, Ministerpräsident zu werden, muss man zupacken können." Das hört sich kämpferisch an. Aber seine Ansage kam nicht von Herzen, ist nicht auf Emotionalität gebaut. Sie wurde im Kopf geboren, mit kühlem Verstand.

Stephan Weil, Oberbürgermeister von Hannover, ist Teil eines wichtigen Plans geworden. Er soll der Sozialdemokratie in Deutschland eine große Tür öffnen auf dem Weg zurück an die Macht im Bund. In wenigen Tagen, am 20. Januar, will der gebürtige Hamburger und Jurist, 54, verheiratet, ein Sohn, Schwarz-Gelb in Niedersachsen ablösen und fortan gemeinsam mit den Grünen regieren. Dieser Sieg werde ausstrahlen und das Ende von Angela Merkels Ära als Kanzlerin einläuten – sagen zumindest die Sozialdemokraten.

Es ist ein riskantes Unterfangen, denn wie im Sport ist auch in der Politik ein Sieg nicht planbar. Weil Stephan Weil kein Zocker ist, hat er akribisch beobachtet, wie der Absturz der FDP im Bund und in Niedersachsen einsetzte und der CDU die Machtoption entglitt. Er hat gespürt, wie die Affäre Christian Wulff an der CDU nagte, er hat Chancen und Risiken betrachtet. Die CDU ist noch immer stärkste Partei und liegt bei knapp 40 Prozent, Weils SPD bei 34. Aber die FDP steht seit vielen Monaten konstant bei maximal vier Prozent. Nur deshalb reicht es wohl für Rot-Grün. Das ist das Kalkül.

Nie hat Stephan Weil seine politischen Ambitionen öffentlich demonstriert, indem er wie einst Gerhard Schröder an einem Zaun rüttelte und brüllte. Große Leidenschaft beschränkt sich bei ihm aufs Fußballstadion, als Fan von Hannover 96 auf der West-Tribüne fern der Vip-Logen. Er hat gewartet und sich bitten lassen, bis er sicher war, dass alle wichtigen Leute in der SPD-Spitze an seiner Seite standen. Er ist gut vernetzt in der Bundespartei, hält Kontakt zum Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und ist eng befreundet mit dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktion und ehemaligen Landesminister Thomas Oppermann.

Das Risiko klein halten, keine Fehler machen, in keinen Fettnapf treten – aber aus der Deckung gehen. Das hat er sich damals gesagt vor dem Badezimmerspiegel. Dann hat er verkündet, dass er antreten werde, aber ohne Rückfahrschein. Wenn er verliert, ist er raus aus der Politik. Eine Rückkehr ins Amt des Oberbürgermeisters von Hannover, das er seit 2006 bekleidet, hat er ausgeschlossen. Stephan Weil sagt im Auto: „Ich bin mit mir im Reinen. Und wenn ich gewinne, dann werde ich dafür arbeiten, dass sich diese Gesellschaft anständig entwickelt.“

Dieser Mann ist ein Hoffnungsträger der sonderbaren Art, aber vielleicht ist es dieser kantige Charakter, der störrische Hang zum Detail, der vielleicht altmodisch erscheinende Wille, die Dinge besser machen zu wollen, den die Bürger anerkennen. Ein anderes Kalkül der SPD lautet: Wer will schon noch die alte Schröder-Show, wenn er gut gemachtes Handwerk haben kann? In Hamburg hat Olaf Scholz für die SPD die absolute Mehrheit geholt allein mit dem Versprechen, anständige Politik zu machen. Und Scholz ist im Vergleich zu Stephan Weil wirklich unnahbar.

Sein Bekanntheitsgrad stieg - von 30 auf 65 Prozent

Knapp 35 000 Kilometer hat er in seinem Auto bereits zurückgelegt, Ostfriesland, Emsland, Lüneburger Heide, Harz. Niedersachsen ist der Fläche nach das zweitgrößte Bundesland, hier gibt es Ingenieure und Bauern, Werften und Wald, Meer und ein paar Berge, der höchste ist 971 Meter hoch. Seit Januar 2011 tourt der unbekannte Favorit durch das Land, sein Bekanntheitsgrad ist von 30 auf 65 Prozent gestiegen. Aber im Grunde ist das immer noch schlecht. Bei einer Direktwahl würde CDU-Ministerpräsident David McAllister haushoch gewinnen.

Die wichtigen Wirtschaftsdaten stimmen in Niedersachsen. Die große Mehrheit ist zufrieden mit der Arbeit von CDU und FDP, die Arbeitslosenquote liegt unter dem Bundesdurchschnitt, nur bei der Betreuung der Krippenkinder liegt das Land hinten, und Ganztagsschulen fehlen. Weil hat kein Wahlkampfthema, das berührt, deshalb sagt er überall, wo er aus seinem Auto steigt, „die Niedersachsen sind mit Schwarz-Gelb durch“. Die Aussicht auf Rot-Grün, auf einen bundesweiten symbolischen Triumph, ist die einzige emotionale Botschaft, die er zu bieten hat. Der Rest ist Solidität.

Das ist es, was er ausstrahlt. Man wird sehen, ob das reicht.

Am Freitagmorgen gegen 8 Uhr 30 sitzt Stephan Weil in der Brasserie Habel in der Luisenstraße in Berlin-Mitte. Gleich muss er mit der Grünen-Spitzenkandidatin Anja Piel vor der Bundespresse Rede und Antwort stehen. Er sagt: „Ich bin zwar noch nicht im Buddhismus angekommen, aber ich fühle mich entspannt.“ Ohnehin fällt auf, dass er im kleinen Kreis und von Nahem viel natürlicher und schlagfertiger wirkt als am Mikrofon irgendeines entfernten Podiums.

Eine Stunde später ist das wieder gut zu sehen. Weil braucht exakt elf Minuten, um die nach oben gezogenen Schultern und den vorgebeugten Kopf in eine andere, entspannte Position zu bringen. Er trägt artig seine wichtigsten Wahlkampfthemen vor: Bildung und demografischer Wandel. Als Schlagworte taugen sie eigentlich nicht, um zu punkten, und die genaue Erklärung, wie die Themen in einem Land zusammenpassen, das, wie er sagt, „den stärksten Bevölkerungsrückgang in Deutschland“ zu verkraften hat, interessiert auch wieder nicht jeden. Das nervt ihn. Wenn er nur schon gewählt wäre, er könnte seine Kompetenz allen beweisen! So muss er sich mit der Frage herumschlagen, ob man ohne den Schein der Volkstümlichkeit ein guter Politiker sein kann. Natürlich wird er gefragt, wie er damit umgehe, dass sein Kontrahent David McAllister in den Sympathiewerten weit vorne liegt. Weil stellt eine gewagte These auf: „Es werden nicht Personen gewählt, sondern Konstellationen.“

Aber diese Art der politischen Wortakrobatik passt nicht zu ihm. Auf dem Parteitag in Hannover, bei dem Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten gekürt wird, hält Weil die Begrüßungsrede. Er winkt mit einem weit in die Luft gestreckten Arm ins Publikum und hält den Kopf schief, was ziemlich steif aussieht. Er brüllt: „Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, um die schlechteste Bundesregierung abzulösen, die wir je hatten.“ Das Publikum grölt auf und klatscht kurz. Weil ist kein Einpeitscher. Manchmal steht er bei Auftritten neben Steinbrück mit verschränkten Armen da, wirkt merkwürdig distanziert, wie auf einer Veranstaltung der Parteizeitung „Vorwärts“.

Im Frühstückscafé oder auf der Fahrt durch Niedersachsen sitzt dagegen ein unverkrampfter Mann, ohne Allüren, und streift sich ungeniert ein paar dicke Strümpfe über, weil er gleich hinaus in den Schnee muss. Wer länger mit ihm redet, registriert, dass er mehr Sein ist als Schein, was nicht immer rüberkommt.

Er ist kein Menschenfänger, er fordert Menschen. Das kann anstrengend sein, wenn man nicht damit rechnet. Auf seinem Weg durch Niedersachsen kommt er an einem Mittwoch im Dezember nach Holzminden ins Weserbergland. Er besucht eine psychiatrische Einrichtung für Kinder und Jugendliche.

Die medizinische Leiterin erklärt das Konzept, das darauf beruht, die Familie einzubeziehen. Weil unterbricht sie und sagt: „Klingt ja nicht so ungewöhnlich.“ Er will der Leiterin Mut machen, das Konzept näher zu erklären, aber es wirkt ungewollt besserwisserisch. Er fragt: „Was wäre Ihr systematischer Ansatz für Familienpolitik?“ Die Leiterin stutzt, das ist nicht ihr Thema, Weil legt nach: „Was machen Sie in einer Gesellschaft, in der die Familien zerbröseln?“ Das Haus gehört zum Albert-Schweitzer-Familienwerk, das auch eine Stunt-Schule für Jugendliche betreibt. Als Weil das erfährt, ruft er „lauter Schweitzer-Zöglinge für James Bond“ – aber niemand lacht.

Eigentlich ist sein Auftritt überhaupt nicht abgezockt, wie man sich das von einem Politiker vorstellt. Man könnte auf die Idee kommen, hier meint es jemand ernst mit seinen Fragen und dem Versuch, über Lösungen nachzudenken. Aber am Schluss flüstert einer der Angestellten auf die Frage, wie er Weil fand: „Na ja, war halt ’ne PR-Aktion.“

Anschließend fährt Weil auf den Weihnachtsmarkt von Holzminden und spielt Eisstockschießen mit örtlichen Polizisten. Holzminden, sagen die Holzmindener, zeichne sich dadurch aus, dass es im Umkreis von 50 Kilometern keine Autobahn gebe. Der Weihnachtsmarkt ist idyllisch. Es schneit. Weil verliert das Match mit seinem Team 3:8. Aber er kalauert, dass er mit dem roten Eisstock den „schwarz-gelben Puck“ getroffen habe. Dann bestellt er Glühwein, steht da mit seiner braunen Lederjacke und einer schwarzen Wollmütze, isst Currywurst mit Zwiebeln, und niemand käme auf die Idee, zu denken, dass er vielleicht der künftige Ministerpräsident ist.

Keine hundert Kilometer vom Holzmindener Weihnachtsmarkt entfernt, in Hannover, sitzt an einem Dezembermorgen der Grünen-Abgeordnete Enno Hagenah in seinem Landtagsbüro und lacht. Er kennt Weil schon viele Jahre, und die Anfänge der Bekanntschaft mit Weil werden hier auch noch eine politische Rolle spielen. Aber dazu später. Manchmal, sagt Hagenah, und guckt jetzt selbst etwas unglücklich über seinen Schnurrbart, habe er sich fremdschämen müssen, wenn Weil auf dem Schützenfest versucht habe, den Volkstümlichen zu geben. Er sagt: „Aber man darf ihn nicht auf diese Schwäche reduzieren. Stephan Weil ist gewandter und intelligenter, als er öffentlich rüberkommt.“ Er sei an der Sache orientiert, ohne große Geste.

Kurz dachte Weil einmal, er müsse sich ändern

Stephan Weil kommt aus einer bürgerlichen Familie, beide Eltern Akademiker, die Mutter, wie er sagt, „politisch links“. Ein Sozialdemokrat, der Gerhard Schröder nahesteht, sagt: Der Altkanzler, eben kein bürgerlicher Typ, neige bis heute zu großer Emotionalität und zum Zorn. Stephan Weil, sagt der Genosse, habe ein gesünderes Selbstbewusstsein, das ihn in sich ruhen lässt.

Weil selbst sagt: „Ich bin Produkt einer typischen bürgerlichen Familie, die eher konservative Schule hat auch einen linken Schüler wie mich geprägt.“ Anstand und Bescheidenheit, Solidarität mit den Schwächeren, Verantwortungsgefühl und eine immer klare Haltung seien Grundtugenden seiner Erziehung. „Die anständige Gesellschaft“, von der Weil immer wieder spricht, ist bei ihm keine Phrase, sondern ein tief sozialdemokratisch verwurzeltes Grundanliegen. Er sieht den Politiker in erster Linie als Administrator des Gemeinwohls, dem Pragmatismus verpflichtet, weniger als Visionär. In diesem Sinne gehört er in die Tradition bürgerlicher Sozialdemokraten seiner Geburtsstadt Hamburg, wie etwa Henning Voscherau oder Klaus von Dohnanyi.

Als Student in Göttingen hat er mit Thomas Oppermann Ende der 70er Jahre die Basisgruppe Jura gegründet und die Fachschaft Jura gegen den CDU-nahen Studentenbund RCDS gewonnen. Ein ehemaliger Student erinnert sich, dass Stephan Weil „marxistische Diskussionen“ ein Grauen waren. Weil wurde als „Helmut Schmidt“ verspottet. „Damals war das kein Ritterschlag für ihn, heute schon“, sagt der alte Mitstreiter.

Er wird Juso-Vorsitzender in Hannover und Vorsitzender des Unterbezirks Hannover-Stadt. Er arbeitet als Rechtsanwalt, Richter, Staatsanwalt und tritt 1997 in Hannover das Amt des Kämmerers an. Zuständig für 1500 Mitarbeiter.

Damals, erzählt Enno Hagenah, habe Weil begonnen, sich um Finanzen zu kümmern. Ständig habe er sich Listen angefertigt, in die er eintrug, wo man sparen könnte. Sein politisches Frühwerk lieferte er mit Hagenah Anfang der 90er Jahre ab, als sie eine Bürgerbefragung über die Expo 2000 in Hannover durchsetzten – gegen den Willen des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und Hannovers legendären Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg. Es war ein Pilotprojekt für Bürgerbeteiligung bei einem extrem umstrittenen Großvorhaben, zu vergleichen mit „Stuttgart 21“ oder dem Berliner Flughafen, wo solche Bürgerbeteiligungen nicht vorgesehen waren.

Später als Oberbürgermeister machte sich Weil in der kommunalpolitischen Szene bundesweit einen Namen. Eine ehemalige CDU-Oberbürgermeisterin einer Großstadt schwärmt: „Er ist sachlich und sympathisch, ein fähiger Politiker, der eine große Administration führen kann und sich in Finanzen auskennt. Ministerpräsident – das kann der.“

Im Auto spricht Weil über die Zeit, in der er selbst Zivildienstleistender in einer Jugendpsychiatrie war. Im Umgang mit den Patienten habe er eine Erfahrung gemacht: „Es war wichtig, dem anderen zu zeigen, ich mag dich, auch wenn ich dich jetzt daran hindere, dass du dich verletzt.“ Weil möchte das übertragen verstanden wissen als seine generelle Einstellung zum Bürger. Es komme darauf an, wie man auch unpopuläre Botschaften vermittelt. „Rücken gerade, freundlich, offen und klar in der Botschaft“ sei der richtige Weg. Er findet: „Das kann ich.“

Dann verrät Weil, dass es da doch mal einen Augenblick gegeben habe, in dem er dachte, er müsse sich ändern, um Ministerpräsident zu werden. Damals las er „die ersten psychologischen Abhandlungen über mich, in denen immer stand, ich strahle keinen Glamour aus“. Er hat dann morgens mal wieder in den Spiegel geguckt und gedacht: „Ich kann nichts anderes sein als ich selbst.“

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