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© dpa-Zentralbild

Wahlen in der DDR: Es war ein Kreuz

Manche haben den 18. März 1990 immer noch nicht verstanden, den Tag, an dem die ersten und letzten freien Wahlen der DDR stattfanden. Manche schämen sich. Und einer drehte einen Film darüber, wie die CSU in Sachsen Wahlkampf machte.

Die ARD suchte eine Expertin Ost. Jemanden, der am 18. März 1990 live im Studio die ersten freien Wahlen in der DDR kommentiert. Angelica Domröse, die der DDR in der „Legende von Paula und Paula“ eines ihrer schönsten Gesichter gegeben hatte?

Was da zu kommentieren sein würde, schien klar. Ob die deutsche Einheit kommt, war immer die Frage, das Wie dagegen fraglos: mit einem großen Linksruck in Deutschland. Mit einem Sieg der Sozialdemokratie.

Es gibt Menschen, die haben den 18. März 1990 noch 20 Jahre später nicht verstanden. Und noch immer ist da eine seltsam hochschäumende Emotion. Ja, manche schämen sich sogar, sobald die Rede auf den Tag kommt, an dem die ersten und letzten freien Wahlen in der DDR stattfanden. Aber fanden diese Wahlen überhaupt in der DDR statt? Das Ergebnis einer politischen Wahl ist, meint man, ein politisches Ergebnis. Oder sollte auch das eine Täuschung gewesen sein?

Während Angelica Domröse noch über ihre Eignung als Wahlexpertin Ost nachdachte – immerhin hatte sie das Land 13 Jahre zuvor verlassen – und im Berliner Haus der Demokratie eine junge Physikerin für den „Demokratischen Aufbruch“ Computer aus dem Westen auspackte – konservative Wahlkampfhilfe! –, wurde der Berliner Filmemacher Thomas Grimm sehr nervös.

Er war Inhaber des wohl ersten freien Filmstudios der DDR. Ein Herbstkind wie die Freiheit, wie die Revolution. Grimm dokumentierte seit Dezember für „Spiegel-TV“ den Untersuchungsausschuss der Volkskammer „gegen Amtsmissbrauch, Korruption und persönliche Bereicherung“. Er wusste, dass er über diesen 18. März 1990 einen Film machen musste. Kein Sender hatte sich an ihn gewandt, aber der wahre Dokumentarist ist sein eigener Auftraggeber. Nur verhielt es sich gerade umgekehrt wie bei der Frage der deutschen Einheit. Das Dass schien ganz gewiss, aber vor dem Wie stand er ratlos. Sollte er etwa den Leuten vor Wahllokalen auflauern wie gewöhnliche Reporter?

Thomas Grimms „Zeitzeugen“-Filmstudio liegt gleich hinter der Berliner Jannowitzbrücke, wo die Kneipen beginnen, Namen wie „Melancholie Nr. 1“ zu tragen. Doch sein Büro verrät einen Menschen, der sich zurücklehnen kann im eigenen Leben. Im Schutz der deckenhohen Bücherwand sagt er, was er damals von einem Augenblick auf den andern plötzlich wusste: „Ich muss raus aus Berlin!“ In den kleinstmöglichen Ort, der wie ein Brennglas wäre. Sosa! Sosa im Erzgebirge, keine 3000 Einwohner.

Grimm muss lachen. Er hat seinen Film von damals wieder gesehen, ja, er hat ihn überhaupt nie vergessen. Wie könnte er auch. „Deutsch und frei“ heißt er, genau wie die Erzgebirgshymne, die damals alle Sosaer sangen. Wie Deutsche eben singen. Mit schwerer Zunge, aber sehr laut. Und wer „Deutsch und frei“ kennt, argwöhnt: Nur ein erklärter Feind des Erzgebirges macht einen Film wie diesen!

Doch kein Waldmensch sagt etwas Böses über einen anderen Waldmenschen. Thomas Grimm, geboren 1954 in Aue, ist ein Sohn des Erzgebirges. Selbst jetzt fällt ihm eigentlich kein Ort ein, der schöner wäre als dieses Sosa.

Eigentlich hätte die Wahl im Mai 1990 stattfinden sollen. So hatte es der erste Runde Tisch Anfang Dezember beschlossen. Und dazu die Erarbeitung eines Wahlgesetzes. Und, ganz wichtig: keine Einmischung von außen. Selbst Helmut Kohl glaubte Mitte Dezember noch an viele Jahre bis zur Wiedervereinigung. Obwohl er damals schon dieses Helmut! Helmut! Helmut! im Ohr hatte. Und inzwischen war es Ende Februar.

Der Wahltermin war vorgezogen worden. Aus der Konsensorientierung des Runden Tisches war längst Dissensorientierung, also Wahlkampf geworden. Der neue Verfassungsentwurf für die DDR wurde am Runden Tisch nicht einmal mehr besprochen.

Der Runde Tisch hatte in gewisser Weise das herrschaftsfreie Kommunikationsideal des emeritierten Chefdenkers der alten Bundesrepublik Jürgen Habermas verkörpert. Der hat das bloß nie gemerkt, und was in der DDR geschah, lediglich als „nachholende Revolution“ bezeichnet. So falsch das war, irgendwann wurde es richtig, spätestens jetzt.

Neue Parteien, die anfangs gar keine Partei sein wollten, hatten schon ganze Parteiengeschichten hinter sich. Etwa der Demokratische Aufbruch zu dem Zeitpunkt, als die junge Physikerin dort die Computer auspackte. Ihr Parteivorsitzender war inzwischen dazu übergegangen, sich dem Ostvolk mit den Worten „Vor Ihnen steht der nächste Ministerpräsident“ vorzustellen und dazu Cola-Dosen zu verteilen. Helmut Kohl brauchte zehn Punkte bis zur deutschen Einheit? Wolfgang Schnur brauchte nur sechs. Das fanden die meisten Gründungsmitglieder des Demokratischen Aufbruchs zum Austreten peinlich, weshalb der „nächste Ministerpräsident der DDR“ in akuter Gefahr stand, bald allein in seiner Partei zu sein. Und er ernannte die Computerauspackhilfe von einem Augenblick zum nächsten zu seiner Pressesprecherin.

Aufbruch wohin?, fragen nur heillose Idealisten, solche, wie sie am Beginn einer Revolution aufzutreten pflegen. Na, wohin schon? Aufbruch zur Macht!, antworten unisono die Männer und Frauen der zweiten Reihe. Auch die neugegründete Ost-SPD übte sich inzwischen in Kraftmeierei: „Wir suchen die Macht. Wir wollen sie, denn wir sehen keinen, bei dem sie besser aufgehoben wäre als bei uns.“

Die Wahlprognose vom 17. Februar 1990 lautete: 36 Prozent SPD, sieben Prozent Allianz für Deutschland (CDU, DSU – eine Art Ost-CSU –, Demokratischer Aufbruch), fünf Prozent PDS, 45 Prozent unentschlossen, viele davon wahrscheinlich Bündnis 90, in dem sich die meisten Bürgerbewegungen zusammengeschlossen hatten.

Alle Bergbewohner zu uns!, hatte die CSU über die bayerische Grenze gerufen. Grimms erster Drehtag war der 16. März. Deutschlandfahnen wehten; in der Mitte, wo sich bis eben Hammer und Zirkel im Ährenkranz befunden hatten, waren sie ein wenig dunkler. „Lieber Fußpilz als Sozialismus!“ stand hellblau auf einer grauen Betonwand. Kinder sammelten sich vor ihrer Schule bereitwillig zum Gruppenbild mit Banane. Westreporter mochten das Motiv, Ostreporter vielleicht auch. Am Nachmittag eine Wahlkampfveranstaltung der DSU.

Die Großparteien West hatten den Wahlkampf Ost längst übernommen. Ihre Vertreter reisten landauf, landab.

Helmut! Helmut! Helmut!

Bis Sosa kam der Bundeskanzler nicht, nach Sosa kam Herr Lothar Weller von der CSU, Kriminalbeamter in Hof. Schon im dritten Satz fragte der die Sosaer: „Wissen Sie, was Freiheit ist? Freiheit heißt, dass ich individuell mit dem Verantwortungsbewusstsein in einer Gesellschaft umgehen kann, wie es mir beliebt. Das ist Freiheit!“ Ob der etwas genommen hatte vorher? Aber die Sosaer merkten nichts. Beifall! Grimm schämte sich ein wenig für seine Erzgebirgler. Und Herr Weller war noch lange nicht fertig mit der Freiheit: „Und Freiheit ruht und beruht auf materiellem Wohlstand letzten Endes. Dort wo kein materieller Wohlstand ist, ist auch keine Freiheit zu Hause. Das nur mal vorab.“

Die Sosaer sahen Herrn Weller dankbar an. Sie hätten das nie so formulieren können, aber auf solchen Zusammenhänge hatten sie gehofft. Dass es nichts Traurigeres gibt als eine Existenz als bloßer Verbraucher, den selbst keiner braucht, konnten sie nicht ahnen. Und dann war der Mann aus Hof bei den „sozialen Errungenschaften der DDR“: „Sind das soziale Errungenschaften, Ihre Krankenhäuser? Da würde sich nicht mal ein Asozialer aus Hof reinlegen!“ Tosender Beifall. Das Filmteam schaute sich an. War das dasselbe Volk, das noch vor ein paar Monaten auf den Straßen des Landes gestanden hatte? Dieses Volk war witzig gewesen. Hatte Goethe und Schiller in Weimar ein Plakat mit der Aufschrift „Wir bleiben hier!“ umgehängt. Was dieses Volk schön gemacht hatte, war vor allem sein Stolz gewesen.

Ein Wahlvolk muss eine ganz andere Art Volk sein. Ironie der Geschichte: Sollte gar mit dem Aufkommen der Einheitsfrage das Experiment Demokratie Ost beendet sein?

Grimm schaute in die Gesichter der 22 Arbeiter des Maschinenbauers BLEMA Sosa, die dem DSU-Wahlkampf-Trabi, von einem Ost-Zahnarzt gestiftet, bis vors Werktor folgten: „Die Deutsche Soziale Union, eine neue dynamische unbelastete Kraft. Freiheit statt Sozialismus!“, tönte es aus dem Trabi-Lautsprecher, „Wir sind die Schwesterpartei von Franz Josef Strauß. Unsere Grundwerte sind: Freiheit! Einheit Deutschlands auf kürzestem Wege! … Deshalb: Wählen Sie am 18. März DSU!“ Ganz langsam ging die Kamera von einem zum anderen. Grimm überlegt: „Was ich sah, war leise Skepsis, verbunden mit einer unendlichen Hoffnung. Einer Hoffnung so groß, dass selbst der gesunde Menschenverstand störte. So groß, dass man selbst seine eigene Verunglimpfung beklatscht.“

Die Euphorie war unduldsam gegen Abweichler. Als Abweichler galten im März 1990 in Sosa alle, denen zuzutrauen war, dass sie nicht DSU wählen. Denen sollte man ihre Gehälter lebenslang in Ostmark auszahlen!, rief Volkes Stimme. Das war der neue Totalitarismus. Nebenan in Bockau wurde im Namen einer Schnapsfabrik die erste „Miss Angelika“ gewählt. Angelika heißt eine einheimische Wurzel stechenden Geruchs, die in den Schnaps kommt.

Grimm hat kein Talent zum Entlarver, nicht einmal zur Selbstgerechtigkeit. An ihm hatte die DDR einen ihrer letzten Schauprozesse inszeniert.

Schauprozesse finden immer dann statt, wenn das, was dir geschieht, fast nichts mit dem zu tun hat, was du getan hast. Grimm hatte als Leiter des Filmclubs der Humboldt-Universität Ende der 70er Jahre den polnischen Film „Tarnfarben“ gezeigt, ein Stück Intellektuellenkino über eine verlotternde Universität im Sozialismus. Doch den sahen statt der üblichen Cineasten ausgerechnet 180 Teilnehmer einer Beststudenten-Konferenz inklusive Universitäts-SED-Parteileitung. Ja, Thomas Grimm weiß es: Die Tragödien von gestern sind heute oft kaum mehr verständlich. Und vielleicht wäre alles nur halb so schlimm gekommen, hätte sich nicht kurz darauf in Polen die Solidarnosc gegründet. Nun lautete der Verdacht gegen den Filmfreund: Unterwanderung der DDR in Tateinheit mit der versuchten Gründung einer konterrevolutionären Vereinigung. Nur gut, dass ein Staat, dem es gelungen war, den Geist der Inquisition bis weit ins 20. Jahrhundert hineinzutragen, endlich verschwand.

In der Nacht zum 18. März errichteten Jugendliche auf dem Marktplatz von Sosa einen großen Galgen. Die Gebrauchsanweisung gaben sie gleich mit: „Hängt die Wendehälse auf!“ Vor der Sosaer Kirche ertönte am nächsten Morgen nach der Sonntagsmesse Blasmusik. Feuerwehrleute bauten den Galgen wieder ab. Das Filmteam begleitete die Fliegende Wahlurne, deren Überbringer den zu besuchenden Wahlberechtigten auch gleich erklärten, wo das Kreuz hin musste.

Stunden später gab der Sosaer Wahlkampfleiter bekannt: „Grüne Partei sieben Stimmen, die Kommunistische Partei eine, die Partei des Demokratischen Sozialismus 39, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands 20, Verzeihung 95 Stimmen, Demokratischer Frauenbund eine Stimme, Deutsche Soziale Union 576 …“ Weiter kam der Wahlkampfleiter nicht. Seine Stimme ging im Deutschlandlied unter: „Von der Maas bis an die Memel …“ Es war keine Drohung, nur Begeisterung. Das Wahlergebnis jenseits von Sosa: Allianz für Deutschland (DSU plus CDU plus DA) 48,2 Prozent, SPD 21,8 Prozent, PDS 16,3 Prozent, Liberale 5,3 Prozent, Bündnis 90 2,9 Prozent.

Die Einfältigen im Lande riefen: Die DDR hat die Kirche gewählt! Kein Pfarrer hat das geglaubt. Die Sachverständige Ost im ARD-Wahlstudio schien ratlos. Statt Antworten hatte sie nun selber lauter Fragen: Was hat denn die CDU mit der Wende zu tun? Was hatte sie überhaupt mit der DDR zu tun? Warum hat das Volk nicht die Bürgerbewegung gewählt, sich selbst? So zu fragen, war naiv, sie wusste es selbst. Aber waren die 48,2 Prozent etwa nicht naiv?

Als Angelica Domröse das ARD-Wahlstudio im Palast der Republik verließ, hielt das Volk sie am Ärmel fest. Er werde ihr jetzt einmal erklären, warum er die CDU gewählt habe, kündigte ein junger Mann an. Weil er Arbeiter sei. Und weil er am Ende dieses Jahres ein Auto haben wolle. „Machen Sie es gut, gnädige Frau!“ Angelica Domröse gewöhnte sich daran, Briefe zu empfangen, die Anreden trugen wie „Sie dämliche Ziege!“

Der Cola-Mann, der sich seinem Volk schon als neuer Ministerpräsident vorgestellt hatte, war wenige Tage vor der Wahl als IM der Staatssicherheit enttarnt worden. Seine Partei „Demokratischer Aufbruch“, direkt aus dem Herbst ’89 hervorgegangen, wenn auch von fast allen guten Geistern längst verlassen, war das einzige demokratische Feigenblatt der Allianz für Deutschland gewesen. Sie bekam 0,8 Prozent der Stimmen. Wolfgang Schnurs Pressesprecherin Angela Merkel wurde trotzdem Pressesprecherin der neuen christdemokratischen Regierung.

Die deutsche Vereinigung – langsamer oder schneller – wäre in jedem Fall ein schwerer Weg geworden. Den aber zu beginnen mit dem Versuch, sich selbst, das eigene Herkommen, die eigene Geschichte einfach abzuwählen, würde Folgen haben. Thomas Grimm, dem der vertraute Ort plötzlich so fremd war, wusste es schon am 18. März 1990. „Die Formen des Gemütszustandes wechseln bei den Ostdeutschen seitdem unablässig hin und her“, sagt Grimm, „zwischen Verliererdepression und Gestaltungseuphorie.“

Er ist fünf Jahre danach noch einmal nach Sosa gefahren, „Deutsch und frei, Teil 2“ entstand: „Jetzt fand ich die Gesichter versteinert. Bis in die Physiognomien hatte sich das Bewusstsein des Verlierens gegraben. Nun fühlte man sich erniedrigt im Verlust biografischer Identität.“

Die 22 Arbeiter von BLEMA Sosa hatten ihre Arbeitsplätze bereits verloren. Miss Angelika 1990 hat nie wieder an einer Miss-Wahl teilgenommen, sie betreute inzwischen als Krankenschwester auf einer psychiatrischen Station vor allem Fälle von Schizophrenie und vereinigungsbedingter Schwerstdepression.

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