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Istanbul

© dpa

Wahlen: Türkei: Europa ja, Deutschland nein

Die Bundestagswahl spielt in den türkischen Medien keine Rolle. Die Elite des Landes interessiert sich sehr für Europa - und so gut wie gar nicht für Deutschland.

Deutschland? Das ist für die meisten Türken ein fremdes fernes Land, über das sie wenig wissen. Nur zwei Dinge sind halbwegs bekannt: Erstens, in Deutschland leben viele Türken und Türkischstämmige. Zweitens, Deutschland wird von einer Kanzlerin regiert, die die Türkei nicht in der EU haben will.

Nur diese beiden Themen werden in diesen Wochen auf den hinteren Seiten der türkischen Presse behandelt, in Kurzmeldungen, in kleinen Artikeln, aus Agenturen abgeschrieben. In den Fernsehnachrichten spielt die deutsche Wahl keine Rolle.

Die wichtige politische Bedeutung der deutschen Wahl für die Türkei wird damit von den Medien weit unter Wert verkauft. Denn in der Tat hängt vom Ausgang der deutschen Abstimmung einiges ab für das Land, das seit 2005 mit der EU über den Beitritt verhandelt. Bisher regierte in Deutschland die Große Koalition, was für die Türkei vor allem dies bedeutete: Förderer und Bremser waren in einer Regierung vereint.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD war als Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder 2004 daran beteiligt, der Türkei den Weg zu Verhandlungen zu ebnen. Diese Linie setzte er als Chefdiplomat der Großen Koalition fort.

Kanzlerin Angela Merkel hingegen hatte als Oppositionsführerin gegen den Türkei-Beitritt Wahlkampf gemacht und ließ auch als Kanzlerin immer wieder durchblicken, dass ihr eine "privilegierte Partnerschaft" mit der Türkei lieber wäre als der Beitritt. Für Ankara hieß das: ein Schritt vor, ein Schritt zurück, und am Ende Stillstand in den Verhandlungen.

Ein Wechsel zu Schwarz-Gelb am kommenden Wahlsonntag würde wohl die Befürworter eines Türkeibeitritts in der deutschen Regierung stark mindern. Die CDU/CSU ist überwiegend dagegen, die FDP bisher unprofiliert. Eine Fortsetzung der Großen Koalition brächte die Kontinuität des Stillstands in der Türkeifrage, bei einer SPD-geführten Regierung dürfte Ankara aller Wahrscheinlichkeit nach mit mehr Rückenwind aus Berlin rechnen.

Doch zu solchen Voraussagen kommen die türkischen Miniaturberichte über die deutsche Wahl erst gar nicht. Warum ist das Interesse an Deutschland, warum ist das Wissen über das größte EU-Land so gering?

Die türkischen Eliten interessieren sich sehr für Europa, schließlich streben sie dorthin seit Atatürks großer Wende nach Westen in den zwanziger Jahren, aber sie streben nicht nach Deutschland. Das mag irrwitzig klingen angesichts der Zahl der Türken in der Bundesrepublik. Aber die Zuwanderer in Deutschland entstammen nicht den Oberschichten.

Die klassischen Eliten der Türkei gingen auf französischsprachige Gymnasien (türkisch: "Lise") und schafften fürs Volk den "otobüs" - Autobus - an, damit die Kinder einfacher Familien wenigstens den Weg zur Grundschule fanden. Die heutigen Eliten lernen vor allem Englisch, studieren auf englischsprachigen Universitäten in der Türkei und lesen über Deutschland bisweilen in englischsprachigen Medien, und dort erfährt man ja auch schon nicht viel.

Aber immerhin mehr als aus türkischen Medien, denn die haben in Deutschland in aller Regel noch nicht einmal ordentliche Korrespondenten. (Übrigens auch selten anderswo.) Passiert irgendetwas Berichtenswertes, wie etwa der Brand eines von Deutschtürken bewohnten Hauses in Ludwigshafen Anfang 2008, dann rufen die Redaktionen aus Istanbul rasch in Frankfurt an, bei den Schwesterblättern von Hürriyet, Milliyet oder Zaman.

Die dort arbeitenden Deutschtürken berichten dann, aber nicht aus der Perspektive eines entsandten Korrespondenten, sondern meist aus der Perspektive eines Zuwanderers. Deshalb haben die Berichte über Deutschland in den Medien der Türkei häufig Migrationsfragen zum Thema: "Wie geht es unseren Brüdern und Schwestern?"

Dabei hätte die Türkei an diese Wahl interessante Fragen zu stellen: Wie entwickelt sich die Linkspartei und wie steht sie zum türkischen EU-Beitritt? Bedeutet die strukturelle linke Mehrheit von SPD, Grünen und Linken bei den letzten Wahlen, dass es künftig wieder eine für die Türkei günstige politische Konstellation in Deutschland geben kann? Kommt es doch zu Schwarz-Gelb, wie steht der wahrscheinliche Außenminister Westerwelle zur Türkei?

Es ist damit zu rechnen, dass diese Fragen wenigstens am Abend der deutschen Wahl im türkischen Fernsehen kurz auftauchen. Ein schneller Anruf bei den journalistischen Brüdern und Schwestern in Frankfurt wird, so bleibt zu wünschen, gut informierte Antworten bringen.

Quelle: ZEIT ONLINE

Michael Thumann[Istanbul]

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