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Konrad Beikircher: Das ist mein NRW

Der Bergische lebt in Höhlen. Der Kumpel im Revier weiß, wat Sache is. Der Lipper hat das Sparbuch erfunden – und der Rheinländer hält den Klüngel zusammen: Konrad Beikircher über Europas seltsamstes Land: Nordrhein-Westfallen

Nordrhein-Westfalen ist, wir wissen es, ein schönes Land. Die wunderbaren Skigebiete im Rheinland, die herrlichen westfälischen Seenplatten, die riesigen Rinderauen und Weidelandschaften zwischen Dortmund und Oberhausen, die sauerländische Steppe – alles weltberühmte Fernerholungsparadiese, wie jeder weiß, der schon mal im Stau zwischen Siegen und Hagen stand und von den kühn geschwungenen Autobahnvolten weit ins Land hinein schauen durfte.

Alles schön und gut, aber weiß außer den Eingeborenen hier in NRW überhaupt jemand, worin die wahre Größe unseres Landes besteht? Nordrhein-Westfalen, Herrschaften, ist die Wiege Europas, mehr noch: ein Europa im Kleinen, und damit das Modell dafür, dass es geht!

Wo in anderen Bundesländern ethnische Öde vorherrscht (in Hessen gibt’s nur Hessen, in Mecklenburg-Vorpommern nur Mecklenburg-Vorpommern, im Saarland nur Saarländer, in Bremen nur Bremer, oder, um den Kreis weiter zu ziehen: in Liechtenstein gibt’s nur Liechtensteiner, in Luxemburg nur Luxemburger oder in San Marino nur Matrosen, von den anderen Ländern ganz zu schweigen), so war das in Nordrhein-Westfalen immer schon anders. Wir halten seit den Anfängen Nordrhein-Westfalens dieser Eintönigkeit eine Vielfalt entgegen, die einmalig ist. Hier haben sich Rheinländer, Niederrheiner, Selfkanter, Nordeifeler, Sauerländer, Bergische, Siegerländer, Revierkumpels, Lipper, Münsteraner und Ostwestfalen – um nur die Wichtigsten zu nennen – im Rahmen einer gigantischen Wohngemeinschaft zu einer Einheit zusammengeschmiedet, die weltweit einmalig ist. Diese Gegensätze! Diese Harmonie!

Hätte man Basken, Elsässer, Bretonen und Schotten zusammengepfercht, es wäre nichts gegen das Gemisch, das wir aufzuweisen haben. Wäre dies aber überall sonst auf der Welt ein Gemisch, gegen das Afghanistan eine geruhsame Seniorenresidenz wäre, ist das bei uns anders. Das liegt daran, dass der Rheinländer in diesem Gemisch der Katalysator ist. Ohne seine ruhige Fürsorglichkeit, seine wundervolle Zurückhaltung in allen Bereichen öffentlichen Lebens und seine unglaubliche Unaufdringlichkeit – Eigenschaften, welche die schroffen Gegensätze der anderen ethnischen Gruppen mildern, ja geschmeidig einander nähern – wäre wohl nie was daraus geworden.

Also: In Nordrhein-Westfalen funktioniert es und zwar ohne in eine Legierung zu verschmelzen, in der jede Eigenart der Einzelelemente aufgehoben wäre zugunsten eines wie auch immer gearteten Neuen.

Das Wunder Nordrhein-Westfalen begann im achten Jahrhundert. Und es begann natürlich mit einer Männerfreundschaft, genauer: mit der Freundschaft zwischen Karl dem Großen und Papst Leo III. Das eigentliche Wunder dabei ist aber nicht, dass der Aachener Kaiser (auch Klenkes-Karl genannt) sich mit dem süditalienischen Römer Leo III. anfreundete, ist doch seit Agrippina, der Mutter Neros, die in Rom Karneval und Kölsch einführte, die Seelenverwandtschaft zwischen dem Rheinländer und dem Römer in alle Ewigkeit gefestigt. Das eigentliche Wunder ist, dass die beiden sich in Paderborn zum ersten Mal trafen und dabei nicht nur nicht „laufen jejangen“ sind, sondern außer aneinander auch am Westfalen Gefallen fanden. Was übrigens für die oft unterschätzte Raffinesse des Westfalen spricht: Er galt nämlich damals als Sachse, hatte aber die Zeichen der Zeit erkannt und war kurz vor dem Besuch der beiden rasch zum „normalen Glauben“ konvertiert – im Gegensatz zu den übrigen Sachsen, deren Halsstarrigkeit ja 30 000 von ihnen den Hals kostete. Zurecht, wie uns die Geschichte lehrt, denn wären sie damals ebenfalls Rechtgläubige geworden, wäre uns sicher das Trio infernale Ulbricht, Pieck und Grotewohl und in der Folge der Helium-Pavarotti Honecker und damit letztlich die teure Wiedervereinigung erspart geblieben. Nun denn: Es hat nicht sollen sein.

Leo III. kam übrigens aus Italien, weil man ihm in Rom übelst nachstellte, zuletzt versuchte man bei der Prozession am 5. April 799 ihn vom Pferd zu holen, zu blenden und ihm die Zunge abzuschneiden, denn er gehörte nicht zum römischen Adel und muss auch sonst etwas unangenehm gewesen sein. Um sich zu schützen, floh er nach Paderborn, wo ihm die Pfalz und die Karlsburg derart gefielen, dass er beschloss, den Sitz des Vatikan von Rom nach Paderborn zu verlegen. Wäre ihm das gelungen, sprächen die Päpste unter dem Drei-Hasen-Fenster zu den Gläubigen, no, wenn das nix wäre! Aus heute nicht mehr bekannten Gründen kam es dann doch nicht mehr zum Umzug. Schade aber auch.

Die Westfalen hatten also ihren Göttern abgeschworen (ihre Symbole haben sich allerdings bis heute in Ansätzen erhalten: die Herforder Tulpe, die Liebe zur Posaune oder die Verehrung der Kartoffel als Omnium Remedium) und sich damit als mit dem genetisch katholischen Rheinländer koalitionsfähig erwiesen. Kaiser und Papst sahen darin die Chance, von diesen beiden Enden her – Aachen und Paderborn – Nordrhein-Westfalen quasi aufzurollen und Krone und Tiara zuzuführen. Schon 804, als Karl und Leo in Aachen Weihnachten feierten (dabei soll Leo so exzessiv den Printen zugesprochen haben, dass er ab da im Rheinland nur noch „dä Printepaaps“ genannt wurde), war Nordrhein-Westfalen als solches schon so gefestigt, dass dies in der berühmten Soester (das damals noch Sose hieß) Eidesformel seinen Ausdruck finden konnte:

„Ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, SOSE gelimida sin“ also: „Bein mit Bein, Blut mit Blut, Glied mit Glied – in Soest miteinander verschweißt“.

In einem feierlichen Akt in den Domen zu Kalterherberg, Köln, Soest und Paderborn unterzeichneten Printen-Leo und Kabänes-Karl den Eid, der Rest ist Geschichte.

Natürlich sind wir in Nordrhein-Westfalen froh, dass nach 1945 Persönlichkeiten wie Pinkus Müller (unter anderem Erfinder der Weitwurf-Frikadelle), Lübkes Hein (als sauerländischer Partykracher unvergessen), Adenauer (DER kölsche Experte für das rechtsrheinische Sibirien) und Willi Weyer (als geistiger Vater Möllemanns das Missing Link zwischen Anspruch und Zumutung, also zwischen Rheinland und Westfalen) den Besatzern die historische Dimension Nordrhein- Westfalens klarmachen konnten und damit für die Kontinuität dieses Wunderlandes sorgten, aber: Wir hätten es auch ohne sie hingekriegt.

Und da sind wir bei der Frage: Was bindet, beziehungsweise unterscheidet die Mitglieder dieser Wohngemeinschaft Nordrhein-Westfalen, an- beziehungsweise voneinander?

Sie bindet das aneinander, was sie voneinander unterscheidet, Defizite und Fähigkeiten ergänzen sich wie sonst nirgends zum Wunderpuzzle NRW.

Der Niederrheiner weiß nix, kann aber alles erklären (so hat es Hanns Dieter Hüsch, der niederrheinische Prophet aus Moers, formuliert) und ist damit der geborene Pressesprecher,

der Selfkanter als Nicht-Mehr-Rheinländer und Noch-Nicht-Holländer erst seit 1963 Mitglied der Familie NRW hat dem nichts hinzuzufügen, was ihn zum Regierungspräsidenten geradezu prädestiniert,

der Nordeifeler ist die lebende Brücke in die germanische Vergangenheit, dort lebt man ja heute noch so (ich sage nur: Kirmes in Dreiborn: hinfahren, mitmachen und zwei Wochen später wieder zu sich kommen!), und ist damit geborener Archivar,

der Sauerländer trifft den Nagel immer auf den Kopf – und zwar von beiden Seiten (oh Heinrich Lübke, wie fehlst du uns!), ideale Eigenschaft für Präsidenten,

der Bergische lebt am liebsten in Höhlen (was er vom Neandertaler gelernt hat) und ist so stolz darauf, schreiben zu können, dass er sich immer noch nicht vom Schiefertäfelchen trennen kann, ja, alle seine Häuser sogar damit beschlägt, damit er sie immer greifbar hat, höchste Eignung für Spitzenpositionen in Landschaftsverbänden und Polizeipräsidien,

der Siegerländer hat seine Zunge den hochdeutschen Verkrampfungen verweigert, sein rollendes „R“ ist das Bindeglied zu allen außerdeutschen Sprachen, er ist damit der perfekte Fremdsprachenkorrespondent,

der Kumpel vom Revier weiß immer, wat Sache is, Übertage und Untertage, und ist damit wie keiner für Tacheles geeignet,

der Lipper hat das Sparbuch erfunden, weiß aber nicht mehr, wo er es hingelegt hat, was muss ein Finanzminister mehr aufweisen?,

der Münsteraner war immer gut im Glauben (wovon die Wiedertäufer ein Lied singen könnten, hätten sie die Münsteraner nicht aufgeknüpft), verwaltet bis heute die konstantinische Schenkung und ist damit der geborene Nuntius Apostolicus,

der Ostwestfale sagt a) immer die Wahrheit, aber b) immer im falschen Moment, eignet sich also hervorragend zum professionellen Zeugen vor Untersuchungsausschüssen und

der Rheinländer schließlich ist die Apotheose dieses Schmelztiegels, die Kraft, die alles eint, der kölsch-mediterrane Balsam, der im geschmeidigen Klüngel alles zusammenhält, was sonst unweigerlich auseinanderlaufen würde.

So ist „mein“ NRW: europäisch, weltoffen und hat doch so viel mit sich selbst zu tun, dass es kaum dazu kommt, nach links und nach rechts zu gucken. Es ist die Keimzelle der EU, nur weiß das keiner und vielleicht ist das auch gut so. Es kämen sonst vielleicht doch einige auf die Idee, nach hier zu kommen und das wäre nicht opportun, denn das Hauptelement der vielen Völker in diesem wunderbaren Bundesland ist nach wie vor: Sie bleiben am liebsten unter sich. Der Sauerländer im Sauerland, der Rheinländer im Rheinland, der Kumpel im Revier, der Westfale dortselbst. Die Fäden laufen in Düsseldorf zusammen und werden von dort aus weniger nach Parteizugehörigkeit als viel mehr nach ethnischer Zugehörigkeit geknüpft. So gesehen wäre nach einem Rheinländer aus Pulheim wieder eine Frau aussem Revier dran. Willse machen!

Konrad Beikircher

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