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Der rheinland-pfaelzische Ministerpraesident Kurt Beck (SPD, l.) während seiner Wahlkampftour in Rheinland-Pfalz auf einem Markt in Mainz.

© dapd

Rheinland-Pfalz: Und das Wir gewinnt

Es geht ihm immer auch um die kleinen Leute. Kurt Beck, der Sonntag in Mainz wiedergewählt werden will, ist der lebende Klassiker sozialdemokratischer Lehrbücher. Niemanden vergessen, alle mitnehmen – fast schon zwanghaft.

Manche machen sich lustig über den bärtigen Mann mit Bürstenhaar und sagen, der habe schon jedem der vier Millionen Rheinland-Pfälzer die Hand geschüttelt. Vielleicht stimmt das sogar. Aber jetzt fasst sich der Mann plötzlich an den Arm. Im schummrigen Hinterzimmer einer Bürgerhalle im Hunsrück knetet und massiert Kurt Beck seine schmerzhaften Stellen bis hoch zur Schulter.

Vor ihm steht ein Bier, die belegten Brötchenhälften rührt er nicht an. Um ihn herum sitzen Parteifreunde und betrachten ihren Chef, den Landesvater, mit stolzem Blick. Seit knapp 17 Jahren ist er im Amt, länger als jeder andere Ministerpräsident in Deutschland. Er regiert derzeit mit absoluter Mehrheit. Und wenn er die bei der Landtagswahl am kommenden Sonntag verlieren wird, die SPD liegt bei knapp 38 Prozent, dann macht Beck halt mit den Grünen oder der FDP weiter. Aber weitermachen wird er. Ein letztes Mal.

Schon ist es 22 Uhr 30. Eigentlich muss Beck jetzt los, zurück nach Mainz. Der nächste Tag wird wie immer aus acht bis zehn Terminen bestehen. Jeden Abend freut sich Beck deshalb schon auf sein Lyrikbuch, einen „Jahresgedichtband“, aus dem er neuerdings laut im Bett rezitiere, um abzuschalten. Er überlegt kurz, ob er ein paar Verse auswendig aufsagen soll, doch auf die Schnelle fällt ihm kein Gedicht ein. Außerdem ist es jetzt gemütlich, das Bett muss warten, Gemütlichkeit ist eine sehr ernste Sache in Rheinland-Pfalz, mindestens so ernst wie Fußball. Ein Bier muss schon sein und Zeit für ein paar Anekdoten.

Hand in Hand mit seinem Vater, einem Maurer, hat der junge Kurt einst ein Haus im Heimatdorf Steinfeld, Südpfalz, gebaut. Weil ein Kran viel zu teuer war, haben sie die Stahlträger selbst geschleppt. Es ist nicht das Händeschütteln, es ist der Hausbau, bei dem Beck sich eine chronische Schleimbeutelentzündung in der Schulter eingefangen hat. Der Witz mit dem Händeschütteln relativiert sich da. Beck verzieht das Gesicht: „Immer wenn einer meine Hand fest packt, dann schmerzt das vielleicht.“

Er ist mal Kurt, der Volksfreund, der Ehrliche, nah bei de Leut’, und dann Beck, der Dorfdepp und Provinzpolitiker, der als SPD-Vorsitzender versagte und die Partei ins tiefe Tal von 22 Prozent führte. Es gibt viele Politiker, deren Biografie auf die eigene Politik abfärbt, aber kaum jemand macht und denkt Politik so sehr aus dem eigenen Erleben heraus wie Beck. Er schüttelt die vielen Hände auch deshalb, sagt ein guter Freund, „weil er mit jedem Händedruck seine Batterie auflädt“. Er schüttelt sie aber auch aus Pflichtgefühl, aus dem Wunsch heraus, niemanden auszugrenzen. Kommt er in einen Saal, achtet er peinlich genau darauf, die Menschen im Hintergrund zu beachten: etwa den Türsteher, den Polizisten, die Toilettenfrau. Niemanden vergessen, alle mitnehmen – dieses Motiv ist zwanghaft bei ihm.

Die Ausgrenzung gehört zur Beckschen Biografie. Eine schwere Hauterkrankung im Gesicht hat ihn als Jugendlichen zum Außenseiter gemacht. Er wurde gemieden. Aber er begegnete auch anderen Ausgegrenzten. In seiner Heimatstadt lebten geistig behinderte Menschen. Die Kinder mit dem Down-Syndrom wurden vor der Dorfgemeinschaft aus Scham versteckt. Später setzte sich Beck vehement für die „Psychiatriereform“ ein, die mehr ambulante Behandlungsmöglichkeiten bietet. Er und seine Frau sind stark engagiert in diesem Bereich. In Kastellaun begrüßen ihn Behinderte wie einen Freund. Beck, der zwar Hände schüttelt, aber körperliche Distanz hält – von ihnen lässt er sich umarmen.

In Rheinland- Pfalz stellte ihm nie einer unangenehme politische Fragen, und so blieb eine seiner Seiten unbemerkter als in Berlin: der Habitus moralischer Überlegenheit. Ein sehr gerne gebrauchter Satz von Beck unterstreicht das: „Es gibt unter den Politikern Wortdesigner und Überzeugungstäter.“ Natürlich sieht er sich als Überzeugungstäter. Er behält gerne recht.

Die Erkenntnis, dass ein Dachdecker nicht bis 67 Jahre arbeiten kann und somit die Rente mit 67 für manche keinen Sinn macht, entspringt Becks konkreter Lebenserfahrung. Er ist das Kind eines Maurers und einer Hausfrau, Ehemann einer gelernten Friseurin, er wird in ärmlichen Verhältnissen groß, er macht, wie es im Dorf üblich ist, nur acht Klassen Volksschule. Er wird Elektromechaniker. Er ist schon 23 Jahre, als er seinen Realschulabschluss nachholt.

Und weil sich das alles doch sehr nach einem Klischee anhört, muss man Kurt Beck begleiten in seinem Reich, um zu sehen, wie der Mann Politik macht.

Im Kulturzentrum in Bingen am Rhein warten 200 Gäste bei Brezel, Spundekäs und feinherbem Chardonnay. Bingen ist der reichste Bezirk in Rheinland-Pfalz, bei der Wahl 2006 hat der Direktkandidat nur mit 138 Stimmen vor der CDU gewonnen. Ohnehin ist Rheinland-Pfalz ein eher schwarzes, strukturkonservatives Bundesland, das lange Jahre von der CDU regiert wurde. Beck, der im Bund den Linksruck der SPD auch hin zur Linken verantwortete, hat kein Problem damit, sich als „Konservativen“ zu bezeichnen.

24 Orte besucht Beck in 16 Tagen, stets marschiert er mit einer extra für ihn komponierten Musik in die Halle ein, die Leute springen auf und klatschen, im Hintergrund läuft ein Werbefilm. Dann redet er ohne Notizen. Er genießt den Applaus. In Berlin, als SPD-Vorsitzender, hat Beck mit seinen Mitarbeitern manchmal wochenlang an Reden gefeilt – und dann hat er sie weggeworfen und wieder frei gesprochen. Kam selten gut an. Wahlkampfreden im eigentlichen Sinne hält er auch gar nicht. Beck erzählt Geschichten, es sind Hunderte von Einzelheiten, die er versucht, in komplizierten Sätzen zu einfachen Botschaften zusammenzufügen: Immer geht es dabei um den sozialen Zusammenhalt, um Verantwortung für die Gesellschaft. Beck ist sozusagen der lebende Klassiker der sozialdemokratischen Lehrbücher.

In der hellen Binger Kulturhalle ist Beck von der weltweiten Wirtschaftskrise beim Thema Demografie gelandet. Er spricht über Bücher, die den Generationenkampf vorhersagen. Beck schaut ins Publikum und ruft empört: „Diese Theorie entspringt Köpfen, die nur in Konkurrenz und in Egoismen denken können.“ Er krallt seine Finger zu Klauen, das Gesicht ist jetzt so rund wie der Vollmond. Er brüllt, was selten vorkommt: „Wir dürfen das in unserer Gesellschaft nicht zulassen.“ Und dann sein Lieblingssatz: „Das Miteinander, das Wir muss immer stärker sein als das Ich.“

Rheinland-Pfalz hat hinter Bayern und Baden-Württemberg die drittniedrigste Arbeitslosigkeit und mit 2,0 Prozent die niedrigste Quote bei der Jugendarbeitslosigkeit, dafür die beste Ausbildungsquote. Das Land hat sich von einem Agrarland mit Forstwirtschaft und Weinanbau zur modernen Dienstleistungs- und Hochtechnologie-Region gewandelt. Und Beck vergisst auch an dieser Stelle nicht zu erwähnen: „Wir gemeinsam haben das geschafft. Die Kirchen, die Gewerkschaften und die Wirtschaft.“

Dieter Rombach, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering in Kaiserslautern und ein enger Berater Becks, glaubt, dass die „Pfälzer aus historischen Gründen einen gewissen Selbstzweifel hegen“. Deshalb sei Becks „Wir“-Politik richtig. Den politischen Erfolg erklärt der Professor so: „Wenn ein Unternehmen hierher will, wird sofort ein Kontakt hergestellt. Und meist ist Beck zur Stelle.“ In Rheinland- Pfalz hat Beck 5000 neue Unternehmen angesiedelt und neue Universitäten gebaut, Studiengebühren gibt es nicht, das Wirtschaftswachstum liegt bei 4,5 Prozent, der Bundesdurchschnitt ist 3,1.

Im Beck-Land ist ab dem zweiten Lebensjahr der Kita-Besuch kostenfrei. Nirgendwo gibt es mehr Ganztagsschulen. Anders als in Hamburg ist die Schulreform erfolgreich umgesetzt worden, statt der Hauptschule entstand die Realschule plus, auf der man gezielt auf einen Lehrberuf vorbereitet wird. Um die Klassenstärken auf 24 zu drücken, wurden 1000 neue Lehrer eingestellt. Die verkürzte Schulzeit, das umstrittene G8-Abitur, darf man nur an Ganztagsschulen machen. Weil der Stress an normalen Gymnasien zu groß sei, wie Beck findet.

Doch die „Investitionen für die Zukunft“, wie Beck sagt, bedeuten auch 33 Milliarden Euro Schulden, 160 Millionen sollen künftig jährlich gespart werden, aber vermutlich wird Beck den Schuldenabbau den ihm Nachfolgenden überlassen. Er wird dann entspannt an der geliebten Mosel im Urlaub herumradeln.

Die CDU mit der Spitzenkandidatin Julia Klöckner, 38, hat es schwer, Angriffspunkte zu finden. Die Partei, selbst tief in eine Finanzaffäre verstrickt, liegt bei rund 35 Prozent und versucht es mit dem Vorwurf, das Land sei verfilzt. Aber bis auf die Nürburgring-Affäre, bei der die SPD auf einen windigen Geldgeber hereinfiel und die die Bürger bis zu 300 Millionen Euro Steuergeld kostete, hat Beck sich wenig vorzuwerfen. Und die Anspielung auf den „König Kurt“ und der geäußerte Verdacht, er habe Vetternwirtschaft betrieben, machen ihn fuchsig. Seinen guten Ruf will er sich nicht noch einmal kaputt machen lassen.

Das erste Mal haben das die eigenen Genossen erledigt. Als Beck von 2006 bis 2008 Parteichef war, stürzte die SPD im Bund ab und suchte verzweifelt nach einer neuen Identität. Wie konnte das dem Wir-Politiker passieren?

Als er wiederkam aus Berlin, erzählt ein Parteifreund, sei Beck schlimm zugerichtet gewesen. Körperlich und seelisch. Er war wieder ein Ausgegrenzter, so, als sei die Hauterkrankung zurückgekehrt. Als er angetreten war in Berlin, hatte er einem neuen Mitarbeiter seine Taktik erklärt: „Meine Erfahrung ist, man muss einen Vertrauensvorschuss geben.“ Der Mitarbeiter erwiderte, Kontrolle sei hier in Berlin viel notwendiger. Aber Beck vertraute lieber. Vor allem sich.

Die Pannenstatistik war verheerend. Er habe zu viele Fehler gemacht, wie Beck selbst später einem Vertrauten gestand. Da war der Besuch in Afghanistan und der Satz von den „gemäßigten Taliban“, mit denen man reden müsse. Dieser Satz war politisch nicht vorbereitet worden, kam völlig überraschend. Beck wurde scharf kritisiert für seine außenpolitische Inkompetenz. Später, als seine Forderung, den Dialog mit den Taliban zu suchen, offizielle Politik wurde, war er längst nicht mehr Parteichef.

Es gab so viel Falsches, Missverständliches, Irritierendes zwischen ihm und seiner Partei: Das Aufweichen der Agenda-Politik, Becks Entscheidung, war ein Affront gegen Arbeitsminister Franz Müntefering. Es kam die Ypsilanti-Linken-Affäre. Erst wollte Beck nicht, dass in den Ländern mit den Linken koaliert wird, dann sollte es die hessische SPD-Spitzenkandidatin doch dürfen. Schließlich das Ende am Schwielowsee, er, geschlagen und gedemütigt, Abtritt durch den Hinterausgang, vorne verkündete Steinmeier die neue Zeit. Ohne ihn. Aber das ist vorbei. Ist es das? Der 62-Jährige hat sein Bier ausgetrunken, er sagt: „Es gab bittere Erfahrungen. Aber wer das verarbeitet, wird demütiger und gefestigter.“

Nächste Frage: Herr Beck, muss die Bundes-SPD, wie der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz sagt, auch wieder für die Wirtschaftseliten glaubwürdig werden, und hat die Partei da Versäumnisse?

Diese Frage gefällt Beck jetzt gar nicht. Gemütlichkeit passé. Er schimpft, man könne nicht immer alles aus Berliner Sicht sehen! Er mache es doch vor in Rheinland-Pfalz, wie das geht, Wirtschaft und Soziales zu verbinden. Beck sagt jetzt nicht: Seht ihr das nicht! Man soll es wohl denken. Er kann sehr eitel sein und verletzlich, wenn er glaubt, sein politisches Vermächtnis werde nicht ausreichend gewürdigt.

Denkt Beck, die SPD schulde ihm noch was? Berlin jedenfalls, die Bundespolitik, es sind offene Wunden. Eine Nominierung zum Bundespräsidenten, glauben Sozialdemokraten, könnte sie heilen.

Im Wahlkampf sieht man den uneitlen, strahlenden Beck. Er hat abgenommen, er streichelt den Hahn Moritz auf dem Mainzer Markt. Das Bodenständige an ihm ist Überzeugung – manche nennen es Spießigkeit. Als er mit einem Mitarbeiter durch München spaziert und Schuhegeschäfte sieht, in denen ein Paar 600 Euro kostet, ruft Beck: „Das ist asozial.“

In Bingen am Rhein kurvt Beck von den weltweiten Spekulanten zum Mindestlohn. Rheinland-Pfalz, sagt er stolz, habe den schon. Unternehmen, die von der öffentlichen Hand Aufträge bekommen, müssen 8,50 Euro pro Stunde garantieren. Es ist an der Zeit, wieder bei seinem Lieblingswort anzukommen: „Wir – sind gemeinsam mit Gewerkschaften und Unternehmen Vorreiter in Deutschland.“

Kurt Beck will nicht mehr und nicht weniger sein.

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