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Mit dem Fahrrad auf Wahlkampftour - für mehr Wählerstimmen, aber auch um die Wahlbeteiligung zu erhöhen.

© Torsten Hampel

Wahlkampf in Brandenburg: Wege durchs Land

Mal sind sie unauffindbar, die Wähler, mal sitzen sie den Kandidaten zahlreich gegenüber, und es ist zu wenig Zeit. An irgendetwas scheint es immer zu mangeln in Brandenburg. Über einen Wahlkampf der kleinen Erfolge und weiten Strecken.

Der Tag, an dem der Wahlkampf über Eichstädt kommt, ist golden und leer. Bis auf das Sonnenlicht hält sich niemand auf der Dorfstraße auf, und auch die Stille wird nur gelegentlich unterbrochen von den Geräuschen, die einige durchfahrende Cabriolets machen, ein paar in fernen Bundesländern zugelassene Wohnmobile und Motorradfahrergruppen aus dem nahen Berlin. Statt Menschen sind an diesem Sonntagnachmittag nur Kraftfahrzeuge unterwegs, Kaffeetafelverkehr, Fun-Mobilität, bis endlich kurz vor halb vier der Ernst um die Ecke kommt.

Die SPD-Dominanz in Oberhavel-Havelland II schwindet

Er besteht aus drei Männern auf Fahrrädern. Vorneweg tritt ein Molliger in die Pedale eines alten Rades der DDR-Marke Mifa, ihm folgt einer mit Pferdeschwanz auf dem Mountainbike, und mit einigem Abstand schließlich quält sich ein Brillenträger über den Asphalt, im roten T-Shirt, vorne steht in weißer Schrift sein Name drauf. Das ist Harald Petzold.

Harald Petzold, 51 Jahre alt, ist der Direktkandidat der Partei Die Linke im Wahlkreis Oberhavel-Havelland II. Zum dritten Mal tritt er zur Bundestagswahl an, die vorangegangenen Male war er dabei erfolglos. „Aller guten Dinge sind drei“, sagt er, und es ist gut möglich, dass das dritte Ding nicht nur gut, sondern das Beste für ihn wird. Wahlprognosen zufolge ist die jahrzehntelange SPD-Dominanz in Oberhavel-Havelland II keine ausgemachte Sache mehr. Die drei hier nördlich von Berlin großen Parteien, die SPD, die CDU und die Linke, sie liegen vergleichsweise dicht beieinander. Es geht jetzt um jeden einzelnen Wähler.

Die Linke ist in Eichstädt. Aber wo ist der Bürger?

Deshalb ist Petzold an diesem Sonntagnachmittag im August hierher nach Eichstädt gefahren. „Präsenz zeigen“, sagt er. Aber wem bloß?

Harald Petzold, 51 Jahre alt, ist der Direktkandidat der Partei Die Linke im Wahlkreis Oberhavel-Havelland II.
Harald Petzold, 51 Jahre alt, ist der Direktkandidat der Partei Die Linke im Wahlkreis Oberhavel-Havelland II.

© Torsten Hampel

Er und seine beiden Wahlkampf-Begleiter stellen ihre Fahrräder auf dem Parkplatz neben der Kirche ab. Das von Petzold hat drei Räder, eines hinten, zwei vorn, es ist eine gerade erst von der Partei angeschaffte knallrote Lastenkutsche. Vor dem Lenker ist eine genauso knallrote Kiste drangeschraubt, auf der „100% sozial“ steht und „Hier ist Die Linke“. Petzold ist erfreut über das Rad, praktisch sei es, sagt er. In der Kiste stapeln sich Wahlkampfzeitungen, ein roter Sonnenschirm liegt auch darin. Den nimmt Petzold nun heraus, montiert ihn ans Dreirad und spannt ihn auf.

Die Linke ist also in Eichstädt. Aber wo ist der Bürger? Petzold geht ihn suchen. Er federt durch die Sonne, umrundet die Kirche, klappert 20 Wohnhäuser ab, steckt die Wahlzeitung seiner Partei in Briefkästen, klingelt an drei Klingelknöpfen, nichts regt sich, auch nicht in jenem Haus, an dem die Tür sperrangelweit aufsteht.

Er vermag nicht mehr zu sagen, ob ihm das Hausieren schwerfällt, ob er sich vor feindseligen Reaktionen fürchtet. Er macht das seit Monaten, seit Ende Juni fast täglich. Sein Jahresurlaub geht für den Wahlkampf drauf. Anders ginge es nicht, sagt er. Tagsüber zum Arbeiten ins Potsdamer Wirtschaftsministerium, nachts schlafen daheim im 30 Kilometer entfernten Falkensee und irgendwann dazwischen Wahlkampf machen auf 2500 Quadratkilometern Fläche, zwischen Berliner Stadtgrenze und Mecklenburg-Vorpommern, „da kriegste ’ne Scheibe“.

Abstrampeln für eine höhere Wahlbeteiligung

Auf jeden dieser Quadratkilometer kommen ungefähr 100 Wahlberechtigte. Das ist der Mittelwert, zwischen Speckgürtel und Strukturschwäche variieren die Zahlen erheblich. Selbst hier in Eichstädt, am Berliner Autobahnring gelegen und von 850 Menschen bewohnt, findet sich an einem Sonntagnachmittag ja keiner davon, vorhin in Bötzow und in Marwitz waren ebenfalls keine da. Nachher in Klein-Ziethen wird Petzold immerhin auf fünf Exemplare treffen, in Schwante und Bärenklau wieder auf keines. Er führt an diesem Sonntag einen Wahlkampf der sehr kleinen Erfolge und weiten Wege, 25 Kilometer karrt er das rote Lastenfahrrad durch die Dörfer der Gemeinde Oberkrämer. Er strampelt sich ab.

Sie strampeln alle in diesen Wochen. Sie suchen den Souverän und das Gespräch mit ihm. Sie rechnen mit einer geringen Wahlbeteiligung und strampeln umso mehr. Sie machen Kilometer. Petzold tut dies oft auf dem roten Lastenfahrrad, die Frau von der SPD in einem für drei Monate gemieteten Mercedes-Transporter, der Mann von der CDU in einem seiner Privatwagen. Wie Kapitäne auf Entdeckerfahrt kreuzen sie durchs Terrain, jeder für sich allein, und manchmal begegnen sie einander dabei.

So wie in der Stadt Hennigsdorf zum Beispiel. Der örtliche Seniorenbeirat hat zum Diskutieren ins Bürgerhaus eingeladen, einer nach allen Regeln der Handwerkskunst hergerichteten einstigen Feuerwache. Es ist einer der Tage, an denen der Wähler überreichlich und ganz von selber die Nähe seiner Repräsentationsaspiranten sucht.

Als es konkreter wird, holen viele ihre Notizblöcke raus und schreiben mit

Harald Petzold, 51 Jahre alt, ist der Direktkandidat der Partei Die Linke im Wahlkreis Oberhavel-Havelland II.
Harald Petzold, 51 Jahre alt, ist der Direktkandidat der Partei Die Linke im Wahlkreis Oberhavel-Havelland II.

© Torsten Hampel

Der Saal ist voll, vorn auf dem Podium sitzt Petzold. Neben ihm sitzen seine Kontrahenten, die Titelverteidigerin Angelika Krüger-Leißner von der SPD und von der CDU Uwe Feiler. Der Moderator der Runde nennt Krüger-Leißner ein „Urgestein der SPD“, sie hier vorzustellen sei wohl unnötig. Krüger-Leißner sagt: „Ich bin immer direkt gewählt worden, das ist eine riesengroße Verpflichtung. Ich bin nah bei den Menschen.“ Feiler sagt: „Mein Name ist Uwe Feiler, 47 Jahre alt, beruflich in Sachsen-Anhalt tätig, als Finanzbeamter. Meine Frau hat einen Spargelhof.“

Am Podiumstisch sitzen auch die deutlich weniger aussichtsreichen Direktkandidaten von Bündnis 90/Die Grünen und von der FDP. Die eine arbeitet im Bundesfinanzministerium, der andere als Geschäftsführer einer Firma, die Bauteile für Kraftwerke herstellt.

Alle fünf werden vom Moderator gebeten, kurz und allgemein die Themen darzulegen, die ihnen im Falle einer gewonnenen Wahl wichtig sind.

Die Grüne sagt: „Meine Themen sind soziale Gerechtigkeit, ein Leben in Alter und Würde und beste Ausbildungsmöglichkeiten für unsere Kinder.“

Krüger-Leißner von der SPD: „Gute Arbeit für Menschen, die auch gut bezahlt ist. Wir würdigen auch die Arbeit des Einzelnen.“

Der CDU-Mann Feiler: „Mittelständische Betriebe von bürokratischen Hürden entlasten. Dafür sorgen, dass der Kuchen, den es zu verteilen gibt, größer wird.“

Die FDP: „Wir leben hier vergleichsweise im Schlaraffenland, wir haben paradiesische Zustände. Wir müssen uns drauf einstellen, dass diese paradiesischen Zustände nicht ewig anhalten. Wir müssen Schulden tilgen.“

Petzold: „Zehn Euro Mindestlohn. Mehr Mittel für sozialen Wohnungsbau.“

Angleichung der Ost- an die West-Renten, ein gerechteres Steuersystem

Es sind Kurzreferate zum Warmwerden. Als der Moderator ankündigt, dass man nun etwas konkreter werden wolle, „wir haben verschiedene Fragenkomplexe erarbeitet“, sagt er, „sieben, acht Themen, die unser tägliches Leben betreffen“, holen viele der Menschen im Saal Notizblöcke aus ihren Taschen und fangen an mitzuschreiben.

Seniorenbeiräte wie dieser hier in Hennigsdorf seien ein Segen, darin sind sich alle Wahlkämpfer einig. Regelmäßig und verlässlich laden die Alten die Kandidaten zu Gesprächsrunden ein, sie schaffen Publikum heran und haben sich vorher gut überlegt, welche Fragen denn zu besprechen seien.

Verständnis für Unpopuläres

Hier in Hennigsdorf haben sie zu gut überlegt. Von den „sieben, acht Themen“, das tägliche Leben betreffend, können an diesem Abend nur drei abgehandelt werden: Auslandseinsätze der Bundeswehr, Herstellung gleicher Lebensverhältnisse und dabei insbesondere die Angleichung der Ost- an die West-Renten, ein gerechteres Steuersystem. Jedes Thema für sich ist ein weites Feld. Entsprechend ausführlich sind die Antworten der Kandidaten. Die fünf Frauen und Männer beschreiben ihre Haltungen, erklären sich, argumentieren mit einerseits und andererseits und bitten wortreich um Verständnis, falls das, was sie gleich auch noch zu sagen haben, ein wenig unpopulär klingen sollte. Am Ende werden alle nur halb zufrieden auseinandergehen.

Einige Wochen zuvor und einige Kilometer weiter nordöstlich war es ähnlich. Ebenfalls eine Podiumsdiskussion, ebenfalls ein Seniorenbeirat, doch diesmal war auch eine Stoppuhr dabei. Jeder der Kandidaten hatte pro Antwort drei Minuten Zeit. Die Uhr hat die Antworten nicht besser gemacht.

Das Bild voneinander bleibt immer unvollständig

Mal sind sie unauffindbar, die Wähler, mal sitzen sie den Kandidaten zahlreich gegenüber, dann aber ist zu wenig Zeit da. Immer scheint irgendetwas zu fehlen in diesem Wahlkampf. Das ist ärgerlich für alle Beteiligten und meilenweit entfernt vom Idealzustand, als Kandidat jeden der 250 000 Wahlberechtigten in Oberhavel-Havelland II über die Tatsache der anstehenden Bundestagswahl und über die eigenen politischen Absichten – und zwar vollständig – unterrichten zu können.

Es läuft immer auf etwas Halbgares heraus, auf etwas Unverhältnismäßiges. Das Bild voneinander bleibt immer unvollständig. Die Kandidaten sagen sich: Man erreicht eben nur die Leute, die zu erreichen sind – und betreiben dennoch einen Maximalaufwand wie Petzold auf seiner Fahrradtour, um wenigstens einer Handvoll dieser Menschen zu begegnen. Die Bürger, so sie Interesse an ihren Kandidaten haben, sagen sich: Wir nehmen die ja gern zur Kenntnis und gehen hin und hören zu, aber am Ende bleibt ja doch wieder die Hälfte ungesagt, weil doch alles in der Politik längst viel zu komplex geworden ist.

Zu viel oder zu wenig Anerkennung, sie hadern mit beidem

Dazu kommt dann noch das grundsätzliche Misstrauen Politikern gegenüber. Es gibt keinen Grund – auch wenn man vielen damit unrecht tut – ihnen vorbehaltlos zu glauben, wenn sie über ihre Ziele sprechen.

In Hennigsdorf redeten sie gerade über soziale Gerechtigkeit und gerechte Steuern, jeder sagte etwas dazu, kritisierte die derzeitige Lage, machte Verbesserungsvorschläge, bis auf den Linken Petzold. Der stand irgendwann einfach nur auf und sagte: „Ich bin erstaunt, mit welcher Leidenschaft die Vorredner über die sich auftuende Gerechtigkeitslücke reden.“ Sie seien doch allesamt Vertreter einstiger und gegenwärtiger Bundesregierungsparteien, sie hätten es doch längst in der Hand gehabt, Sachen zu ändern. Die Menschen im Saal nickten so heftig mit ihren Köpfen, als hätten sie das gerade alle selber sagen wollen.

Es steckt viel von der Vergeblichkeit, Parlamentarier zu sein oder einer werden zu wollen, in diesem Moment. Allgemeine Anerkennung, so scheint es oft, widerfährt ihnen selten. Gelegentlich werden sie nicht einmal wahrgenommen.

Um Anerkennung ringen

Wieder einige Tage zuvor, wieder ein Feuerwehrhaus, aber diesmal ein seinem eigentlichen Zweck dienendes. Es befindet sich in der Stadt Oranienburg, im Ortsteil Germendorf. Der weiße Mercedes-Transporter fährt vor, Krüger-Leißners Wahlkampfauto. „Eine von uns“, steht in roter Schrift darauf und „Am 22.09. AKL wählen!“ Es ist ein auffälliges Auto, zumindest so lange, bis sich zwei silberne Audis ins Bild schieben. In einem davon sitzt Brandenburgs Innenminister Dietmar Woidke. Zwei Wochen später wird der Mann Ministerpräsident sein. Krüger-Leißner hat ihn eingeladen, um gemeinsam mit ihr die Jugendarbeit der Germendorfer Feuerwehr zu würdigen.

Sie sitzen eingezwängt zwischen Kindern im Hof des Feuerwehrhauses. Die Kinder fragen dem Minister Löcher in den Bauch. Er soll erzählen über die Polizei, über Hubschrauber, Hochwasser und Feuerwehren. Er tut dies ausgiebig, bis Krüger-Leißner eine endlich entstehende Pause nutzt und fragt: „Wollt ihr eigentlich mal wissen, was ich arbeite, in Berlin?“ Einige Minuten später, neben dem Minister vor dem Objektiv einer Fernsehkamera stehend, widerfährt ihr das Gleiche. Kaum jemand spricht mit ihr.

Das Einholen einer Expertise - ein Makel?

Manchmal passiert den Kandidaten aber auch das Gegenteil in diesem Wahlkampf, ein Zuviel an Aufmerksamkeit, mit dem sie ebenso zu hadern scheinen wie mit dem Zuwenig. Ein Abend Ende August, das „Netzwerk Unternehmerinnen in Oberhavel“ hat den CDU-Mann Feiler in einen Gasthof eingeladen.

Sieben der Netzwerk-Frauen sind gekommen. Sie haben Fragen vorbereitet und Feiler vorher zugeschickt. Viele davon betreffen Sozialstaats-Themen, und weil eine der Netzwerkerinnen Heilpraktikerin von Beruf ist, kreisen einige auch um sehr spezielle Heilpraktikerprobleme, um Kostenerstattung durch Krankenkassen, um Naturheilverfahren, Modelle der Zusammenarbeit von Heilpraktikern mit Ärzten und um die entsprechenden Gesetze dazu.

Uwe Feiler, der wie der Linke Petzold seinen Urlaub in den Wahlkampf steckt und sich dazu noch vom Dienst hat freistellen lassen, unbezahlt, hat sich deshalb bei Fachleuten seiner Partei Rat geholt. Er überreicht ein von denen geschriebenes Papier, bittet die Frauen um Entschuldigung für seine Wissenslücke und sagt, er wolle nicht, dass dieser Umstand in der Zeitung steht. Er verhält sich so, als sei das Einholen einer Expertise ein Makel.

Feiler ist nervös, so wie auch seine beiden Kontrahenten nervös sind. Es ist alles im Fluss, nichts ist sicher, Erfolg und Niederlage werden – in Wählerstimmen gemessen – nur wenig auseinanderliegen. Feiler selbst indes hat gerade einen ersten historischen Sieg errungen. Eine der aktuellen Wahlprognosen sieht ihn vor der Frau von der SPD.

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