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Wahlkampf in Israel: Wie Yair Lapid alle überrumpelte

Aus dem Stand errang der Gründer der Zukunftspartei bei der Parlamentswahl in Israel 19 Mandate. Nun steht Yair Lapid der zweitgrößten Fraktion in der Knesset vor. Manche halten ihn für einen Populisten, andere für einen „neuen Israeli“.

Eigentlich müssten die Lapids Kameras gewöhnt sein. Familienvater und Fernsehmoderator Yair Lapid zählt seit Jahren zu Israels bekanntesten Gesichtern. Aber es ist etwas anderes, ein prominenter TV-Star zu sein oder „der zweitmächtigste Mann Israels“, wie die „New York Times“ den 49-Jährigen bezeichnet. Als seine Frau Lihi am Wahlabend von der Neugier der Journalisten überrascht, die sich vor ihrer Villa im reichen Norden Tel Avivs eingefunden hatten, aus dem Haus trat, rief sie beschämt: „Doch nicht in meinen Crocs!“

Das Blitzlichtgewitter ging über einer Frau in Trainingsanzug und Plastikschuhen nieder, die allein vor die Haustür zu gehen gewagt hatte.

Zu solchen Szenen dürfte es jetzt nur noch selten kommen. Der überraschende Wahlerfolg von Lapids neu gegründeter Partei „Yesh Atid“ – was übersetzt: „Es gibt eine Zukunft“ heißt – hat ihn über Nacht zu einer Schlüsselfigur im Land gemacht. Nun ringen er und Premier Benjamin Netanjahu in schwierigen Verhandlungen um die Bedingungen für eine Regierungskoalition. Ihm selbst ist das Amt des Außen- oder des Finanzministers angetragen worden. Die abendlichen Stunden von Yair und Lihi, in denen sie vor dem Schlafengehen Tee mit Zimt tranken, dürften dann von nächtlichen Krisensitzungen mit dem Staatschef abgelöst werden.

Seine Wähler hätten weder rechts noch links gewählt, ließ Lapid sie über Facebook wissen. Sie hätten sich entschieden, „vernünftig, schlicht, sauber zu sein. Wir sind normale Menschen, die in einem normalen Land leben wollen.“ Was ein klassischer Lapid-Satz ist: Er trifft den Wohlfühl-Konsens und ist bar jeden konkreten Inhalts. Lapid spricht stets lieber von „Werten“ als über konkrete politische Entscheidungen.

Aus diesem Grund zeigt sich Israels intellektuelle Linke entgeistert von Lapids Erfolg und dem politischen Zuspruch, den er erfährt. Seine Wähler hätten sich entschlossen, „ihre Stimme für nichts abzugeben, für ein Bild aus dem Fernsehen“, sagt Tom Segev, einer von Israels prominentesten Historikern. Aber das erklärt nicht, warum Lapid selbst Meinungsforscher mit seiner Zuversicht widerlegte. Die sagten ihm zuletzt weniger als zehn Mandate voraus, doch Lapid verlor nie den Glauben. Er wusste sich den Umstand, dass 27 Prozent der Wähler auch wenige Tage vor dem Urnengang noch unentschieden waren, zunutze zu machen. Unermüdlich warb er in Schulen um die Herzen der Minderjährigen und setzte darauf, dass sie ihren Eltern sagen würden, „was sie wählen sollen“. Er könnte recht behalten haben. Etwa ein Drittel der Unentschlossenen entschied erst im letzten Augenblick, ihm die Stimme zu geben.

Wer ist dieser Mann mit den kräftigen Schultern und den markanten Zügen eines Kinostars? Und wie sehr unterscheidet er sich von seinem politischen Gegenspieler, der ihn in eine „Regierung der nationalen Einheit“ locken will?

Lapid und Netanjahu haben viel miteinander gemein. Beide wurden jeweils zu Israels „attraktivstem Mann“ gekürt. Das liegt nicht nur an ihrem guten Aussehen und dem Nutzen, den sie daraus ziehen, sondern auch an ihrem Modebewusstsein. In einem Land, in dem Hemden und Bügeleisen scheinbar nie aufeinander treffen und jemand im weißen T-Shirt und sauberen Jeans als „gut angezogen“ gilt, trifft man Lapid und Netanjahu nur mit perfekt gestyltem Haar und in modischer Kleidung an. Nicht umsonst freuen sich Frauenmagazine bereits auf den „George Clooney-ähnlichen Schick“, den Lapid der Knesset einflößen werde. Lapid und Netanjahu sind gewiefte Redner, nutzen dramatische Pausen, entschlossene Handbewegungen, verströmen dasselbe männliche Selbstvertrauen, modulieren ihre Stimme vom anklagenden Fortissimo bis zum bedrohlichen Geflüster. Sie lieben teure Zigarren und guten Whiskey. Sie lieben die Kamera, und diese Liebe wird erwidert. Und beide nehmen es mit Fakten nicht so genau.

Ohne ihn kann Netanjahu keine Regierung bilden

Doch gehen die Parallelen über solche Äußerlichkeiten hinaus. Netanjahu hat sich jetzt sogar Lapids Agenda zu eigen gemacht. Konzentrierte der Premier sich noch vor zwei Wochen auf außenpolitische Probleme und versprach, sich dem iranischen Atomprogramm und der Errichtung weiterer Grenzanlagen zu widmen, ähnelt seine Prioritätenliste jetzt beinahe wörtlich Lapids Wahlversprechen: Eine gerechtere Lastenverteilung im Staat, Erleichterungen für den Mittelstand, Regierungsreformen und Zugeständnisse an liberale Strömungen im Judentum. All das hatte Lapid gefordert in einem Wahlprogramm, das der Einfachheit halber nur fünf Punkte umfasste.

Sein Triumph ist groß. Eine Regierung kann Netanjahu ohne ihn nicht bilden. Doch könnte dessen Offerte dem Neuling vielleicht auch nur den Schritt leichter machen wollen, sich einer Dreierkoalition mit dem rechtskonservativen Likud und der ultranationalistischen Partei „Unser Haus Israel“ anzuschließen. Denn es gibt eine Schwäche des Hoffnungstragers. Und Netanjahu kennt sie offenbar nur zu gut.

Lapid ist der „Nationalliebling“. Mit Kolumnen in Israels auflagenstärkster Tageszeitung „Yedioth Ahronoth“ schrieb er sich in die Herzen seiner späteren Wähler. Und beliebt will er sein, geliebt werden will er. Nicht umsonst hielt er seinen Parteifreunden bei der Siegesfeier ein Ständchen und begleitete sich zum Beatles- Song „With A Little Help From My Friends“ auf der E-Gitarre selbst.

Nachbarn, die mit Yair Lapid im Tel Aviver Stadtteil Yad Eliahu aufwuchsen, beschreiben einen Jungen, der Außenseiter war und oft gehänselt wurde. Sein Vater, der Starjournalist und Parteigründer Tommy Lapid, und seine Mutter Schulamit, eine angesehene Schriftstellerin, überließen ihn oft sich selbst. Der Junge fiel durch Streiche auf, wurde Hobbyboxer und verließ die Schule ohne Abschluss. Bis heute hegt Lapid keine Nostalgie für seine Jugend. Als die Stadtverwaltung ihn dafür einspannen wollte, das Haus, in dem er aufgewachsen war, wegen dessen besonderer Architektur unter Denkmalschutz zu stellen, weigerte er sich und sagte: „Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, was an so einem Haus schön sein soll.“

Erst nach dem Wehrdienst schien in Lapid ein Sinn für Verantwortung heranzureifen. Vielleicht, weil seine Schwester damals bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Er heiratete und wurde Vater. Nach einer kurzen Episode als Produzent in Hollywood kehrte Lapid nach Israel zurück, wo seine steile Karriere begann. Der kleine Mann mit den muskulösen Schultern und dem kantigen Unterkiefer spielte in israelischen Filmen und fand Zeit, elf Bücher zu schreiben. Er übersetzte Lieder, schrieb Musicals, Fernsehserien. Der Durchbruch aber gelang ihm mit einer Talkshow, in der er Israels Prominente einfühlsam und humorvoll interviewte. Jeder kannte jetzt den jungen Mann, der stets ganz in Schwarz auftritt. Man mochte ihn. Sein Wechsel zum Fernsehmoderator der Nachrichtensendung mit den höchsten Einschaltquoten verlieh ihm die Glaubwürdigkeit, die ihm später einen lukrativen Werbevertrag für Israels größte Bank einbrachte. Spätestens jetzt hatte Lapid auch das Geld für seine teuren Hobbys und seine Leidenschaft für schnelle BMWs. Heute schätzt „Forbes“ sein Vermögen auf etwa 4,4 Millionen Euro.

Nachdem seine zweite Frau eine autistische Tochter zur Welt gebracht hatte, war es mit der Leichtlebigkeit vorbei. „Meine drei Kinder sind der eigentliche Grund, warum ich in die Politik ging. Besonders meine Tochter gibt mir die Motivation zu versuchen, eine bessere Welt zu hinterlassen“, erklärte Lapid einem israelischen Reporter, der ihn auf seinem langen Wahlkampf kreuz und quer durch Israel begleitete. In einem seltenen Augenblick der Offenheit fügte er hinzu: „Wenn man gegen die Bürokratie kämpft, die entscheidet, wie viel Hilfe man für die Erziehung seines behinderten Kindes erhält, versteht man, dass ein Gesellschaftsvertrag zwischen Staat und Bürger kein leeres Wort sein sollte.“ Es ist etwa ein Jahr her, dass Lapid sich von tausenden Anhängern zur Gründung einer Partei drängen ließ.

Das politische Geschäft kannte er von Haus aus. Vater Tommy Lapid war ebenfalls in die Politik gewechselt, wurde Vorsitzender der Schinui-Partei, verpasste ihr eine scharf antireligiöse Agenda, und bescherte ihr vor exakt zehn Jahren einen gewaltigen Wahlerfolg. Mit 15 Mandaten eine der stärksten Kräfte im Parlament, wurde der Vater Justizminister und enger Vertrauter des damaligen Premiers Ariel Scharon, mit dem er den Einfluss der Religiösen eindämmte. Ähnliches erhofft sich der Mittelstand nun von seinem Sohn.

Seine Kolumne machte ihn zum Sinnbild des "neuen Israeli"

Nachdem Lapid junior beschlossen hatte, seinen Moderatorenjob aufzugeben, bereiste er ein Jahr lang das ganze Land. Unermüdlich. Seine wöchentliche Kolumne hatte ihn bereits zum Sinnbild des „neuen Israeli“ gemacht: weltoffen, tolerant, liebevoll, stolz auf sein Land und dessen Errungenschaften, aber gleichzeitig kritisch gegenüber seinen Mängeln. Nun ging es um Details. Der schicke BMW wurde gegen eine schnöde, weiße Familienkutsche vom Typ Nissan Murano eingetauscht. „Man muss die Leute nicht neidisch machen“, sagt der Millionär zur selbst verordneten Volksnähe. Um bei nächtlichen Fahrten nicht am Steuer einzuschlafen, putschte Lapid sich mit Obamas Kampagnenhymne „Land of Hope and Dreams“ auf, das er in voller Lautstärke hörte, und lutschte besonders starke kanadische Halsbonbons: „Das Geheimnis jeder erfolgreichen Wahlkampagne“, so Lapid.

Vor dieser Zeit pflegte er seine Abende in Karaoke-Bars zu verbringen. Nun erlebte er, wo immer er auch hinkam, dass sich Wohnzimmer und Säle mit vermeintlich politikverdrossenen Israelis füllten, die sich auf Treppen und Fenstersimsen drängten. Und sie bekamen stets dieselbe Rede zu hören. „Wir sind alle aus demselben Grund hier. Wir alle wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist“, setzte er an. „Für alle, die hier sitzen, habe ich schlechte Nachrichten: Ihr werdet euch keine Wohnung leisten können.“ Der durchschnittliche Israeli müsse inzwischen 127 Monatsgehälter aufbringen, um eine Durchschnittswohnung zu kaufen. Das bedeutet, rechnete Lapid vor, mehr als zehn Jahre für nichts als die Schulden eines Heims Geld auszugeben. Wurzel allen Übels sei das „alte politische System“. Es hebe die Steuern für den Mittelstand an, statt den Etat der Ultra-Orthodoxen oder der Siedler zu kürzen. Damit traf er das Unrechtsempfinden weiter Teile der israelischen Mittelschicht. Die sah in ihm allerdings auch einen Populisten der Mitte.

„Anfangs war ich noch Journalist“, erzählte Lapid über seine Strategie, „versuchte, jeden Abend etwas anderes zu sagen. Aber inzwischen habe ich begriffen, dass man dasselbe immerfort wiederholen muss, damit es einsickert.“ Im Gegensatz zu seinem Vater, der keine Gelegenheit ausließ, seine Gegner mit Beleidigungen zu bedenken, nutzt Yair seinen Bariton für versöhnliche Aussagen: „Wir haben diese Wahlen gewonnen, ohne jemanden mit Schlamm zu bewerfen.“

Außenpolitik berührt Lapid kaum, er konzentriert sich auf Inneres: eine Regierungsreform; eine Bildungsreform; staatliche Programme zur Senkung der Mietpreise, Erleichterungen für mittelständische Unternehmen und die Wehrpflicht für alle Staatsbürger, auch die Orthodoxen, um die Last gerechter zu verteilen.

Deswegen könnte es ein Irrtum sein, Lapid dem israelischen Friedenslager zurechnen, nur weil er die Wiederaufnahme von Friedensgesprächen mit den Palästinensern fordert. Denn mit seinen Aussagen ist er weit von deren Mindestforderungen entfernt – der Räumung von Siedlungen, vor allem der Siedlerstadt Ariel tief im Westjordanland. Ausgerechnet dort hielt Lapid die erste außenpolitische Rede seiner Kampagne. „Es wird keine Landkarte geben, in der Ariel nicht Teil Israels ist“, versprach er. Seine Haltung zum Friedensprozess ist, wie die der meisten Israelis, von Skepsis geprägt. In Verhandlungen wolle er „keine glückliche Ehe mit den Palästinensern, sondern eine Scheidung, mit der wir leben können.“ Eine Teilung Jerusalems lehnt Lapid kategorisch ab. „Jerusalem ist nicht ein Ort, es ist ein Ethos“, erläuterte Lapid. „Und wenn wir darum kämpfen müssen, dann werden wir das halt tun“.

Aus eigener Erfahrung spricht er dabei kaum. Der Journalistensohn leistete seinen Wehrdienst in der Armeezeitung ab. Auch jetzt hält er Friedensverhandlungen für zweitrangig: „Es geht mir zuallererst um Israels Mittelstand. Wir müssen als gesundete Gesellschaft zum Friedensprozess kommen.“

Und deswegen will er sich auf die, wie er kurz nach seinem Wahlerfolg sagt, „wichtigen Dinge“ konzentrieren. Zuvor hatte er von dem Traum erzählt, Finanzminister zu werden. Gewährt Netanjahu ihm diesen Wunsch, wird Lapid mit Hand anlegen müssen, um ein Haushaltsdefizit von mehr als acht Milliarden Euro zu decken – ein denkbar unattraktiver Posten für den politischen Taktiker.

Der lässt den Regierungschef derweil wissen, dass er auch in die Opposition gehen würde, um nach 18 Monaten Neuwahlen einzuleiten. Dann werde er gleich um den Posten des Premiers kämpfen – und erfolgreich sein. Aus Netanjahus Beraterkreis heißt es, Lapid sei „trunken vor Macht“.

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