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Wahlkampf: Niedersächsisches Puzzle

Die Vielschichtigkeit ist das Hauptproblem des Landes zwischen Ems und Elbe - und seine größte Chance. Wie werden sich die Wähler entscheiden?

Ein Emsländer ist zuallererst Emsländer und dann Niedersachse. Und der Ostfriese ist vor allem ein Ostfriese. Der Oldenburger will mit dem Hannoveraner nichts zu tun haben, der Braunschweiger ist immer ein wenig neidisch auf die Landeshauptstadt. Wer immer in Niedersachsen Politik betreibt, kann sich auf die landsmannschaftlichen Besonderheiten verlassen. Einmal monatlich kommen die Landtagsabgeordneten aus allen Teilen des Landes, das keine richtige Metropole hat, in Hannover für vier Tage zur Parlamentswoche zusammen, und nicht selten sind dann regionale Besonderheiten bedeutsamer als parteipolitische Bindung.

So hat der SPD-Parteibezirk Weser- Ems im Westen des Landes über viele Jahre ein Bündnis mit dem östlichen Parteibezirk Braunschweig gebildet. So konnten hannoversche Sozialdemokraten gelegentlich in den Hintergrund gedrängt werden. So widerfuhr es dem heutigen SPD-Spitzenkandidaten Wolfgang Jüttner, der vor acht Jahren die Nachfolge des gestürzten Ministerpräsidenten Gerhard Glogowski antreten wollte: Braunschweig und Weser-Ems kürten damals gemeinsam den heutigen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel.

Die niedersächsische CDU präsentiert sich auf Bundesparteitagen nicht etwa durch einen starken Landesverband, sondern durch die drei Landesverbände Hannover, Oldenburg und Braunschweig. Niemand denkt daran, diese bundesweit einmalige Tradition aufzugeben.

Neben regionalen Interessen, Eigenheiten und Schrulligkeiten ist Niedersachsen von sehr gegensätzlichen Entwicklungen geprägt: Boomende Regionen grenzen an verödende, aussterbende Gegenden. Im Emsland und im Süden Oldenburgs, wo die meisten Menschen katholisch sind und die CDU überdurchschnittlich gut abschneidet, dürfte es ein starkes Bevölkerungswachstum geben. Im Osten hingegen, vor allem im Harz, im Weserbergland und im früheren Zonenrandgebiet, ziehen junge Menschen weg, die Alten und wenig Flexiblen bleiben dort, Geschäfte und Schulen müssen schließen, für Investitionen fehlt jeder Anreiz. Eine Enquetekommission des Landtags hat ermittelt, dass Niedersachsen so in den kommenden 40 Jahren rund 1,4 Millionen Einwohner verlieren wird – in den westdeutschen Bundesländern ist die Lage nur im Saarland noch dramatischer. Strukturpolitisch ist das eine Herausforderung: Wie soll man in schrumpfenden Gebieten Einkaufszentren, Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser für alle gut erreichbar konzentrieren?

Wildwuchs, da sind sich alle Parteien einig, wäre schlecht. Doch die Regierungsparteien CDU und FDP scheuen allzu weitgehende Eingriffe und betonen das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung – und versprechen Prämien für Zusammenschlüsse bislang selbstständiger, aber schrumpfender Städte. SPD und Grüne hingegen fordern eine offensive Entwicklung des Landes mit staatlicher Planung für „gesundes Schrumpfen“.

Die Opposition liebäugelt auch mit der Zusammenlegung der bisher getrennten Schulformen Gymnasium, Real- und Hauptschule. Wie schnell aber Reformpläne die landsmannschaftlichen Befindlichkeiten verletzen können, musste Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) 2004 und 2005 spüren: Um Verwaltungskosten in dem stark verschuldeten Land zu verringern, schafften CDU und FDP die vier Bezirksregierungen in Lüneburg, Hannover, Braunschweig und Oldenburg ab. Aus einer dreistufigen Verwaltung – Landesregierung, Bezirksregierung, Landkreise – wurde eine zweistufige mit Land und Kommunen. Dass der Mittelbau entfallen ist, merken die meisten Bürger nicht, da sie kaum Berührung mit den Bezirksregierungen hatten. Aber vor allem in Braunschweig und Oldenburg, wo diese Behörden in herrschaftlichen Gebäuden untergebracht waren, kam es zu erheblichen Verstimmungen: Viele Würdenträger protestierten lautstark und mutmaßten, „die in Hannover“ wollten die regionalen Wurzeln der Braunschweiger und Oldenburger kappen.

So wundert es nicht, dass Wulff einen undramatischen Wahlkampf „für alle“ geführt hat. In Hannover haben auch die Obdachlosen einen eigenen Wahlbezirk.

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