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Bleibt es bei zwei Stimmen?

© dpa

Wahlrecht: Ein Urteil, das sitzt

Der Karlsruher Spruch zum Wahlrecht macht die Koalition ratlos. Nun drängt die Zeit - und die Opposition auch. Gelingt eine parteiübergreifende Reform?

Karlsruhe hat gesprochen – das Ergebnis ist Ratlosigkeit. Jedenfalls bei Schwarz-Gelb. Denn man hatte sich bei der Reform des Wahlrechts nach dem Urteil von 2008 auf einen Weg begeben, der von den Karlsruher Richtern damals vorgezeichnet worden war. Keine Verbindung der Landeslisten der Parteien mehr – damit war das Phänomen des negativen Stimmgewichts, das Karlsruhe beseitigt haben wollte, weitgehend ausgeschlossen. In der Koalition wird darauf verwiesen, dass man sich auch bei den weiteren Neuerungen im Wahlrecht, also der Zuteilung der Mandate auf die Länder nach Wahlbeteiligung und die so genannte Reststimmenverwertung, an den Maßstäben des Urteils von 2008 orientiert habe. Und jetzt gewichte Karlsruhe die Maßstäbe wieder etwas anders.

Der FDP-Wahlrechtsexperte Stefan Ruppert sagte dem Tagesspiegel, die Richter hätten das negative Stimmgewicht in der Entscheidung vom Mittwoch anders interpretiert als zuvor. Man könne aber nicht mitten im Spiel die Tore verschieben. Er konstatiert „Widersprüchlichkeiten“ in der Entscheidung, die eine neue Lösung nicht einfacher machten. „Ich bin sehr besorgt über die Enge des Spielraums, die dem Gesetzgeber nun noch bleibt“, sagte Ruppert. Sein CDU-Kollege Günter Krings kritisierte das Gericht, weil es nun strengere Maßstäbe für das Wahlrecht formuliert habe als vor vier Jahren.

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Krings plädierte am Donnerstag dafür, nun zügig mit der Opposition nach einer Lösung zu suchen. Die SPD wartet schon darauf. „Wir sind zu Gesprächen bereit“, sagte Thomas Oppermann, der Parlamentarische Geschäftsführer der Sozialdemokraten. Freilich haben die Parteien nach dem Urteil von 2008 auch nicht zueinander gefunden, eine parteiübergreifende Wahlrechtsreform war nicht machbar. Schwarz-Gelb wollte bei den Überhangmandaten nichts ändern (was Karlsruhe 2008 auch nicht verlangt hatte), während SPD, Grüne und Linke hier schon Änderungsbedarf sahen.

Doch gab es auch keine gemeinsame Linie der Opposition. Krings will noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf präsentieren. Sollten die Parteien weiter auf ihren Positionen beharren, könnte die Koalition aber auch wieder im Alleingang handeln. Denn die Zeit drängt, allzu lange kann Deutschland ein Jahr vor der Bundestagswahl nicht ohne Wahlrecht bleiben. Somit sind beide Seiten zum Kompromiss verdonnert.

Der Knackpunkt sind die Überhangmandate

Zumindest in zwei von Karlsruhe gerügten Punkten – Zuteilung der Mandate auf die Länder und Reststimmenverwertung – ließen sich die nötigen Änderungen im Handumdrehen umsetzen. Der Knackpunkt sind die Überhangmandate. Karlsruhe hat entschieden, dass ohne Ausgleich nur etwa 15 dieser Mandate verfassungskonform sind. In der Koalition wird nun überlegt, wie man ausgleicht. Erst ab dem 16. Mandat? Oder muss es einen Komplettausgleich für alle Überhangmandate geben? Das ist die Position der SPD. Auch der Politikwissenschaftler Joachim Behnke meint, dass man an einem Vollausgleich nicht vorbeikomme. Ein Ausgleich erst ab dem 16. Mandat würde zu einer neuen Form von negativem Stimmgewicht führen, „und zwar zur Abwechslung bezüglich der Erststimmen“, während der Effekt sich bislang auf die Listen auswirkt.

Das Problem ist freilich, dass ein Vollausgleich das Parlament aufbläht. Siehe Nordrhein-Westfalen: Dort ist der Landtag nach der Wahl im Mai durch Überhang- und Ausgleichsmandate auf 237 Sitze gewachsen, regulär hat er 181 Sitze. Ein Bundestag mit 800 Abgeordneten statt der regulären 598 ist damit durchaus möglich. Das müssten die Sozialdemokraten dann den Bürgern erklären.

Für ihren Plan, im Gegenzug den Anteil der Direktmandate zu senken und damit auch die der Überhangmandate, fehlt aber die Zeit. Denn ein Neuzuschnitt der Wahlkreise lässt sich zur Wahl 2013 nicht mehr umsetzen. Behnke verweist darauf, dass die Zahl der Wahlkreise stark beschnitten werden müsste, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Es müssten dann wohl 220 statt bisher 299 Wahlkreise sein. Das dürfte nicht einfach werden.

So wird möglicherweise bald eine Maßnahme auf dem Radar der Parteien auftauchen, die sie bisher, von links bis rechts, scheuen wie der Teufel das Weihwasser – das Abrücken vom Zweistimmensystem, den zwei Kreuzchen für Direktmandat und Liste. Das damit mögliche Stimmensplitting ist eine Hauptursache für Überhangmandate. Karlsruhe hat den Bundestag aufgefordert, auch beim Entstehen der Überhangmandate anzusetzen, die Rückkehr zum Einstimmensystem (das bei den ersten beiden Bundestagswahlen galt und in Baden-Württemberg bis heute gilt) ist eine Möglichkeit dafür. Behnke hat errechnet, dass bei der letzten Bundestagswahl sechs der zehn Überhangmandate der CDU in Baden-Württemberg auf Stimmensplitting zurückgingen. Mit dieser Reform könnte die Zahl der Überhangmandate zumindest schon mal halbiert werden – dann wären auch weniger Ausgleichsmandate nötig.

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