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Wenn die Wähler mit der Erststimme einen Kandidaten einer anderen Partei wählen als mit ihrer Zweitstimme, dann kann das zu Überhangmandaten im Bundestag führen - und zu einem sehr großen Parlament.

© Thilo Rückeis

Wahlrecht: Kleines Splitting, große Wirkung

Zwei Kreuzchen auf dem Stimmzettel – mit den absehbaren Änderungen im Wahlrecht könnte das den Bundestag aufblähen.

Zwei Stimmen hat der Bürger. Eine für den Wahlkreiskandidaten, eine für die Parteiliste. Splitten ist erlaubt – wer den Direktkandidaten seiner Partei nicht mag, der kann auch einen anderen ankreuzen. So kann man auch als Koalitionswähler auftreten: die Erststimme für die große Partei, wenn deren Bundestagskandidat eine gute Chance aufs Direktmandat hat, die Zweitstimme für die kleinere Partei. Eine feine Sache für den reifen Wähler, der weiß, worum es geht.

Es gibt da nur einen Haken, weshalb neuerdings ein Fragezeichen hinter dem seit 1957 praktizierten Zweistimmensystem steht: Es fördert das Entstehen von Überhangmandaten, ja es lässt sich, basierend auf den Umfragedaten, sogar dazu nutzen, solche Mandate gezielt zu erzeugen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate bekommt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis in diesem Land an Sitzen eigentlich zustünde. Am Beispiel: In Baden-Württemberg und Sachsen dominiert die CDU und kann fast alle Direktmandate holen. Geben CDU-Anhänger die Zweitstimme der FDP, reduziert das den proportionalen Anteil der Union, es kommt eher zu Überhangmandaten und damit zu einem Vorteil für die Partei.

In seinem jüngsten Urteil zum Wahlrecht entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Überhangmandate ab einer Zahl von 15 auszugleichen seien. Es wies darauf hin, dass Stimmensplitting eine Hauptursache für Überhangmandate sei. Einer der Klagevertreter vor Gericht, der Jurist Hans Meyer, Ex-Präsident der Humboldt-Universität, kämpft seit Jahren für die Abkehr vom Zweistimmensystem.

Nur im Bundestag findet das kein Echo. Die Fraktionen setzen nun zwar die Vorgabe des Gerichts um, die Überhangmandate auszugleichen – und zwar alle, weil das die sauberste Lösung ist. Zwei Modelle werden diskutiert. Über das Zweistimmensystem und das Splitting aber wird nicht geredet. In keiner Fraktion. Am Splitting will man nicht rühren.

Volker Beck etwa, der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, hält wenig davon, wenn nur noch ein Kreuzchen möglich wäre. „Das Zweistimmensystem und damit das Stimmensplitting abzuschaffen, lehne ich ab“, sagte er dem Tagesspiegel. Die Bürger hätten sich daran gewöhnt und könnten auch damit umgehen. „Wenn wir nur noch eine Stimme haben, können wir auch die Direktmandate ganz abschaffen. Denn dann spielt die personenbezogene Komponente der Wahl nicht mehr die Rolle wie bisher. Man sollte aber die Möglichkeit erhalten, dass Wähler auch für einen Direktkandidaten stimmen können, der nicht der Partei ihrer Wahl angehört.“ So denken wohl die meisten Abgeordneten.

Nur eine kleine Minderheit kann sich vorstellen, dass es nur eine Stimme gibt, die dann für den Wahlkreis wie auch die Liste gezählt wird. Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz gehört dazu, oder die Linken-Abgeordnete Halina Wawzyniak. Sie vertritt in der Wahlrechtsrunde die offizielle Fraktionsmeinung, ist aber „privat“ gegen das Zweistimmensystem. „Das Wahlrecht würde durch ein Einstimmensystem einfacher und übersichtlicher“, sagte sie dem Tagesspiegel. Die Unterscheidung in Erst- und Zweitstimme sei für viele Menschen schwer zu treffen. Die Begriffe suggerierten eine Rangfolge, tatsächlich sei aber die Zweitstimme die entscheidende Stimme für die parteimäßige Zusammensetzung des Bundestags.

Der Clou ist nun aber: Mit einem Ausgleich der Überhangmandate durch zusätzliche Sitze oder eine teilweise Verrechnung mit Listenmandaten (darauf laufen die Reformmodelle hinaus), hat taktisches Splitten praktisch keinen Sinn mehr. Der Ausgleich neutralisiert Überhangmandate und damit den Vorteil, den sie einer Partei bislang brachten. Wird dennoch umfangreich gesplittet, bringt das nicht nur Überhang-, sondern auch zusätzliche Ausgleichsmandate.

Nach den beiden Reformmodellen hätte der Bundestag auf der Basis des Ergebnisses von 2009 zwischen 650 und 670 Abgeordnete – statt regulär 598 oder aktuell 620 wegen der Überhangmandate. Natürlich dürfte das Splitting zurückgehen, wenn Wählern die Wirkung des Ausgleichs klar wird. Dennoch werden viele weiter ihre Stimmen ohne taktische Absicht aufteilen – und damit den Bundestag im Zweifelsfall nur aufblähen. Aber ob das noch eine Rolle spielt in den Verhandlungen?

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