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Heute haben die Berliner gewählt.

© dpa

Wahltag in Berlin: Schaut auf diese Stadt

Eine Stunde anstehen, für drei Kreuze. Doch reichen die Wahlzettel? Der Sonntag war sogar organisatorisch spannend. Im Wahllokal musste auch Michael Müller warten. Und was geschah rund ums Rote Rathaus? Eine Reise zum ruhigen Pol eines trubeligen Tages.

Da ruckelt keiner an der Tür und ruft „Ich will hier rein!“ Von einem Regiermeister in spe ist nichts zu sehen, der sitzt noch zu Hause und schlägt seine Zähne in eine knackige Schrippe. Die große eiserne Eingangstür ins Rote Rathaus ist fest verschlossen. Dabei könnte man denken, dass es auch im Objekt der Begierde summt und brummt wie in einem politischen Bienenstock. Irrtum: Die Musik spielt im Abgeordnetenhaus. Hier, zwischen Alex und Schlossneubau: kein Pförtner, kein wacher Wachmann, nicht mal ein Wahllokal. Stattdessen – die Glocken von St. Marien haben gerade den Sonntag eingeläutet und zum Gottesdienst mit Kaffeetafel geladen – Touristen aus Überall. Die Menschen mit Stadtplan und Fotoapparat finden das Rathaus very good, die Umgebung weniger. „Aber det is ehm nu ma mein Berlin“, sagt eine Frau aus Mörl, und ihre Freundin ermahnt den Zeitungsmann, „ja die Richtigen“ zu wählen. „Und wer sind die Richtigen?“ fragt man zurück, „naja, jedenfalls nicht diese neuen Blauen da“.

Ein naiver Mensch könnte auch denken, dass gerade im Roten Rathaus, dem Sitz des Regierenden Bürgermeisters, wenn schon nicht der Chef des Ganzen, dann doch wenigstens ein Wahllokal installiert ist. Auch das nicht. Schon aus rein praktischen Gründen: An der Pförtnerloge vorbei beginnt für jeden ein Aufstieg, ältere Menschen keuchen sich am Geländer hoch – 39 Stufen, bis man den ersten Stock erreicht hat. Aber dann gibt es allerlei zu bestaunen. Nein, der gülden funkelnde Fußballpokal, der alljährlich, gut bewacht, kurz vor dem Endspiel im Olympiastadion hier im Sitz der Stadtregierung zu bestaunen ist, steht derzeit irgendwo in München. Aber unter den Augen des legendären Ernst Reuter, ohne Baskenmütze und aus Stein, glitzert in einer Glasvitrine neben anderen guten und gut gemeinten Gaben für den Hausherren eine goldene Armbanduhr für Gospodin Wowereitu von Wladimir Putin.

Bezirke im Wappensaal

In diesem Hause wurden schon immer freundliche Beziehungen zum einstigen „großen Bruder“ gepflegt, aus jenen Zeiten stammt auch die einzige Amtskette, die nach 1945 ein Stadtoberhaupt getragen hat. Zur 750-Jahr-Feier ließ sich der damalige Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack eine gewaltig schöne Amtskette aus Jold anfertigen: Alle Bezirke mit ihren Wappen, groß wie Zwei-Euro-Stücke, und ganz vorn ein gewaltiger Klunker: das Staatswappen der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Nun liegt es da nutzlos rum und fragt: Braucht ein Berliner Bürgermeister so eine Kette, und, wenn ja, welche und wozu? Wenn er in die Premiere vom „Wintergarten“ geht oder zu Hertha und Union? Oder wenn er Claus Peymann beruhigt? Das wirkt doch irgendwie putzig, oder?

Was die Bezirke und die Wappen betrifft: Die kann man im Wappensaal besichtigen. Die Fenster zeigen die Wappen der Berliner Bezirke vor der Bezirksreform, bei der Rekonstruktion nach 1945 wurden auch die Wappen des damaligen Westteils der Stadt eingearbeitet, trotz der sich bereits abzeichnenden Teilung der Stadt. Oder gerade. Es war schon ein Erlebnis, zu DDR-Zeiten in einem der beliebten Konzerte im Wappensaal zwischen den Wappen von Spandau, Charlottenburg oder Neukölln zu sitzen und bei Franz Schubert oder Wolfgang Amadeus auf Reisen zu gehen, nicht nach Hawaii, sondern wenigstens nach Charlottenburg oder Wilmersdorf, also zum Insulaner, der unbeirrt und nicht umsonst hoffte, dass seine Insel wieder ’n schönet Festland wird.

Wegen der Klinkerfassade zum Roten Rathaus

Eine große Attraktion im Rathaus, wo die Stadtregierung mit ihren Verwaltern und Regierenden-Bürgermeistern-Dienern und -Dienerinnen sitzt, ist der Marmorsaal, in dem Orden verliehen werden oder Brautpaare ihr „Ja!“ hauchen und Küsse tauschen. Vergangenen Freitag hatte eine bildhübsche junge Dame sechs Brautjungfern mit Blumen im Haar mitgebracht. Weshalb das Paar gerade hier heiratet? Der Großvater der Braut, ein Ex-Berliner, ist extra aus Amerika zur Vermählung seiner Enkeltochter angereist und was sagt er? „Hier ist für mich heute der Mittelpunkt Europas – wenn nicht der Welt“ sagt er, „diese Stadt ist so toll. Hier zu leben ist eine Freude, denn jeder hat die Chance, etwas aus sich zu machen.“

Toll? Okay. Aber nicht nur das. Kommen die Mitglieder der Traugemeinde aus dem Rathaus, dann hat der Hochzeitsfotograf alle Mühe, die Damen, Herren und Kinder auf ein Foto zu bekommen. (Auch einer jubelnden Menge ist es verwehrt, den neuen/alten Regierenden Bürgermeister mit Hurra! und Hallo! wie zu Urväters Zeiten auf dem Balkon des Roten Rathauses zu begrüßen.) Bärlinde ist schuld. Die Schildvortriebsmaschine für die neue U 55 bis zum Hauptbahnhof und der Bau des U-Bahnhofs Rotes Rathaus machen sich breit, und die BVG mit ihrem ganz nah an den Repräsentationseingang des Rathauses gerückten Bauzaun tut ein Übriges, die Enge durch flotte Parolen zu beleben: „Die U 5 – für mehr Mittendrin“ heißt es, und man erfährt, dass 1930 bei der Eröffnung der Strecke Alexanderplatz – Friedrichsfelde 60 000 Menschen die U 5 benutzten. Schreibt der Berliner Lokalanzeiger euphorisch. Und nebenbei erfährt man, dass die Morgenausgabe des Blattes zehn Pfennige kostete, einen Jroschen!

1930 war das Rathaus, das wegen der Klinkerfassade zum Roten Rathaus geworden ist, sechzig Jahre alt. Herr Waesemann hat’s gebaut, Hermann Friedrich, der Baurat war mit Friedrich August Stüler am Neuen Museum und mit Albert Dietrich Schadow bei der Rekonstruktion des Weißen Saals im Schloss beteiligt. Für seinen Rathaus-Entwurf orientierte sich der Baumeister an oberitalienischen Rathäusern der Hochrenaissance, um sich vor allem vom nahe gelegenen Stadtschloss der Hohenzollern abzusetzen. Nachdem das Rathaus im letzten Krieg mehr als zur Hälfte zerstört war, begann 1951 der Wiederaufbau unter der Leitung von Fritz Meinhardt. Die jüngste Phase der Restaurierung begann nach dem Einzug der Senatskanzlei des Regierenden Bürgermeisters 1991. Ein Stuckbüstenporträt von Waesemann blickt im ersten Geschoss nahe dem allzu selten benutzten Balkon auf sein Werk.

Stolzer Turm, Berliner Bären-Banner obendrauf

Von hier aus kommt einem die Stadtmitte in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit entgegen: Die DDR-Neuzeit sprudelt ihre Wasserkaskaden unter dem Fernsehturm mit dem Geplätscher des Neptun-Brunnens um die Wette: Hoffentlich hat endlich niemand mehr die Absicht, Neptun mit seinem Gefolge, auch mit den einzigen Berlinerinnen, die den Rand halten, zum Schloss zu verlagern – eine ebenso absurde Idee wie das Bebauen des Rathausforums zwischen Turm und Spree, also die Beseitigung einer pulsierenden Stadt-Grün-Anlage mit ihren Wasserspielen, Rosenbeeten und Bänken.

Wer auf der Rathaustreppe steht und die Kräne zählt, kommt auf ein Dutzend, der größte Teil hängt mit seinen Auslegern über dem neuen Schloss. Das Rote Rathaus wirkt wie ein Fels in der Brandung, ein Solitär aus alten Zeiten inmitten der neuen Berliner City-Ost: Rechts vom Rathaus das Nikolai-Viertel, gegenüber die Wohnblocks der Karl-Liebknecht-Straße, links die Neubauten der Rathausstraße mit dem Berliner Allerlei von Kino, Kneipen, Kitschläden und Cafés. Aber der Rathausturm bestimmt die Stadtsilhouette an dieser Stelle: Stolzer Turm, Berliner Bären-Banner obendrauf und ein Terrakottafries ringsum als steinerne Chronik vom 12. Jahrhundert bis 1871. Dann wurde in den Kellergewölben des neuen Rathauses eifrig gezecht und gebechert, beim Ausbuddeln des Rathaus-Vorgängers haben sie ja alte Becher und Flaschen gefunden.

Am Ausgang liegen Bücher zum Mitnehmen

Noch zu DDR-Zeiten war der Keller, der genau unter dem Turm liegt, ein gemütliches Lokal mit Bier, Wein und Eisbein. Ratskellergeschäfte gehen nicht mehr gut, aber hier, siehe da, finden wir werktags eine Kantine mit dem diskreten Charme des Rathausbeamtenpersonals. Da sitzen auch zwei kraftvolle Männer mit dem gewissen Knopf im Ohr. Wo die Bodyguards sind, kann der Chef nicht weit sein. „Kommt der Herr Müller auch manchmal vorbei?“ Die Frau an der Kasse schüttelt den Kopf. „Der isst mal hier und mal da.“

Die Kantine bietet von 11.30 und 14 Uhr wohlfeile Mahlzeiten, sie gehört zur Union Sozialer Einrichtungen (USE). Einziges Überbleibsel von einst sind bunte Glasfenster mit Alt-Berliner Motiven, dem Krögel, dem Nußbaum, dem Fischerkiez oder dem alten Rathaus. So haben wir hier gleich zwei Rathäuser, ein richtiges und eins aus Glas. Am Ausgang liegen Bücher zum Mitnehmen: „Das Gedicht des Pornographen“, „Fluß der verlorenen Illusion“ oder „Totenmontag“. In der Kantine gibt’s übrigens Linseneintopf oder Kohlroulade.

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