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Politik: Wahrhaft liberal

Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer ist tot.

Berlin - Von den Regeln des Strafprozesses heißt es, sie seien geronnenes Verfassungsrecht. Insofern ist es erstaunlich, wie lange es dauerte, bis ein Strafrechtler am Bundesverfassungsgericht Richter und später Vizepräsident wurde. Vielleicht hat man aber auch nur auf einen wie Winfried Hassemer gewartet, der die Lücke mit seinem herausragenden Profil geschlossen hat. Jetzt ist der Juraprofessor mit 73 Jahren in seiner akademischen Heimat Frankfurt am Main gestorben.

Hassemer trug zu Lebzeiten das aktuell etwas aus der Mode geratene Etikett „liberal“. Es beschreibt ihn weniger politisch als im Denken: Liberal ist, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Und eigene Worte dafür zu finden. So schickte er Bürgermeister Klaus Wowereit im Streit um Bundesfinanzhilfen für die Hauptstadt mit dem frechen Satz nach Hause, Berlin sei sexy, weil es so arm gar nicht sei. Vergleichbar deutlich konnte er auch zu seinen Richterkollegen werden, die er bei der Frage der (bestehenden) Strafbarkeit des Geschwisterinzests mit einem Sondervotum belehrte. Er sah sich als Hüter der Verfassung, nicht der Moral.

Ans höchste Gericht war der Bruder des Berliner CDU-Politikers Volker Hassemer auf Vorschlag der SPD 1996 als Nachfolger Ernst-Wolfgang Böckenfördes gekommen. 2002 wurde er Vorsitzender des Zweiten Senats, 2008 löste ihn der heutige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ab. Liberal war Hassemer aber auch deshalb, weil er im Streit um Staat und Bürger verlässlich an der Seite des Schwächeren zu finden war. Zu der von Edward Snowden ausgelösten Affäre hat Hassemer sich nicht mehr vernehmen lassen. Doch die Risiken entgrenzter Staatsmacht kannte und bekämpfte er, als Wissenschaftler genauso wie als langjähriger hessischer Datenschutzbeauftragter in der Nachfolge von Spiros Simitis Anfang der neunziger Jahre.

Für einen Strafrechtler geht das saubere Verfahren über alles, und so war es kein Wunder, dass er es war, der den Prozess um das erste NPD-Verbot scheitern ließ. Eine Sperrminorität von Hassemer und zwei weiteren Richtern hielt die V-Mann-Dienste von Zeugen für den Verfassungsschutz für unaufklärbar und stellte damit ein unüberwindbares Verfahrenshindernis fest. Wenn es je eine „Klatsche“ aus Karlsruhe für die Politik gegeben hat, dann diese. Sie wirkte so lange nach, dass sich fortan niemand traute, einen neuen Anlauf vorzuschlagen. In der Diskussion nach den NSU-Terrortaten meldete sich der Jurist dann zu Wort, sein Beschluss von damals werde überinterpretiert. So war es auch. Hassemer war kein Ideologe, kein Mann des Dagegen- oder Dafürseins, sondern ein Freund der kritischen Diskussion, bewusst in Mittel und Maß. Liberal eben. Jost Müller-Neuhof

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