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Stilles Gedenken. Eine Stele erinnert nahe der Absturzstelle an die Opfer des Germanwings-Flugs 4U9525.

© Eric Gaillard/Reuters

Was die Germanwings-Katastrophe mit uns macht: Der große Traum vom Fliegen - ein bleibender Mythos

Wie kaum ein anderer lebte der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry den Traum vom Fliegen. Er endete tödlich. Warum der Mythos überleben wird – trotz allem, was in jüngster Zeit passiert ist. Eine Betrachtung.

"Die Erde schenkt uns mehr Selbsterkenntnis als alle Bücher, weil sie uns Widerstand leistet. Und nur im Kampfe findet der Mensch zu sich selbst. Aber er braucht dazu ein Werkzeug, einen Hobel, einen Pflug … so stellt auch das Flugzeug, das Werkzeug des Luftverkehrs, den Menschen allen alten Welträtseln gegenüber und wird uns zum Werkzeug der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis. Wenn ich mit solchen Gedanken vor andere Menschen trete, ersteht mein erster Nachtflug in Argentinien vor mir, das Bild einer dunklen Flugnacht, in der nur die weit verstreuten Lichter in der Ebene gleich fernen Sternen leuchteten. Jedes von ihnen meldete in diesem Weltmeer von Finsternis das Wunder eines Bewusstseins … in weiten Zwischenräumen leuchteten die Feuer im Lande ... Ich muss versuchen, Anschluss zu finden. Ich will mich bemühen, mit einigen dieser Feuer, die in weiten Zwischenräumen im Lande brennen, Verbindung herzustellen.“

Das sind die Sätze, mit denen Antoine de Saint-Exupéry 1939 sein Buch „Wind, Sand und Sterne“ beginnt. Keiner hat wie er, der mit gleich viel Leidenschaft Schriftsteller wie Pilot war, den Mythos des Fliegens beschworen, bis hin zu jenem Märchen vom in der Wüste notgelandeten Flieger, der in der Einsamkeit auf einen Jungen trifft, der von einem fernen Asteroiden auf die Erde kam. Die philosophischen, tief berührenden Gespräche zwischen beiden und vor allem die von Traurigkeit und Weisheit gleichermaßen getragenen Gedanken des kleinen Prinzen und des klugen Fuchses, der ihm begegnet, haben die gleichnamige Erzählung zu einem der großen Werke der Weltliteratur gemacht – wie ja so oft das Erhellende weniger in komplizierten Wendungen der Sprache als in einfachen, klaren Gedanken liegt.

Was ist schon Vernunft

Das ganze Leben des Antoine Marie Jean-Baptiste Roger Vicomte de Saint- Exupéry, so sein voller Name, ist ein Spiegelbild des Traums vom Fliegen wie jenes Ikarus der griechischen Sagenwelt, der ins Meer stürzte, als er mit den von seinem Vater Dädalus aus Wachs und Vogelfedern gefertigten Flügeln der Sonne zu nah kam. Saint-Exupéry, im Zweiten Weltkrieg als Flieger eingesetzt, kehrte am 31. Juli 1944 von einem letzten planmäßigen Aufklärungsflug von Korsika Richtung Grenoble nicht zurück. In seinem Bekanntenkreis ging man davon aus, dass er möglicherweise Suizid begangen habe, denn er wusste, dass dies wegen seines Alters – er war 44 Jahre – sein letzter Flug sein würde, zudem belegen Briefe aus dieser Zeit, dass er stark depressiv war. Fliegen aber war, alle seine Bücher belegen es, sein Lebensinhalt.

Auch an der improvisierten Gedenkstätte am Flughafen Tegel besinnen sich Trauernde auf den französischen Schriftsteller.
Auch an der improvisierten Gedenkstätte am Flughafen Tegel besinnen sich Trauernde auf den französischen Schriftsteller.

© Annette Kögel

1998 fand ein Marseiller Fischer bei der Durchsicht seiner Netze östlich der Insel Ile de Riou, südlich von Marseille, ein Silberarmband, das als jenes von Saint-Exupéry identifiziert wurde. Im Jahre 2000 bargen Taucher in der Nähe der Insel die Reste des Flugzeugs. Spätere Recherchen, ob Saint-Exupéry nicht doch von einem deutschen Jagdflieger abgeschossen worden war, kamen zu keinen eindeutigen Ergebnissen, aus den Resten der Maschine ließ sich der Absturzgrund nicht mehr rekonstruieren.

Die Zeit, in der Saint-Exupéry flog und in der er über diese dem Menschen so gar nicht zugewiesene Welt schrieb, weil ihm aus anatomischen Gründen die Bewegung in der dritten Dimension nur mit Hilfsmitteln möglich ist, war, was die Fliegerei angeht, unendlich gefährlicher und ursprünglicher als die heutige. Aber gerade weil der Mensch eben laufen und schwimmen, nicht aber fliegen kann, lebt der Mythos des Fliegens fort. Und weil wir uns in dieser dritten Dimension nur im Vertrauen auf die Funktionsfähigkeit der Technik und die Kompetenz jener, die sie bedienen, bewegen können, ist nirgendwo die Urangst vor dem Scheitern, vor dem Ende, vor dem Ungewissen, so groß wie dann, wenn wir fliegen – denn es muss ja eigentlich heißen: wenn wir geflogen werden. Und nirgendwo sind wir so angewiesen darauf, dass wir vertrauen dürfen. Wenn das geschieht, was jetzt in Südfrankreich wohl geschehen ist, wird auch ein Mythos zerstört – der Mythos, dass der Mensch auch kann, wozu er von der Natur nicht gemacht ist. Zerschellt ist der Glaube an die Unverletzlichkeit am schwächsten Punkt der Rechnung – am Menschen selbst. Die 20-jährige Tochter, in Asien auf ihren Rückflug mit der Lufthansa nach Deutschland wartend, im Internet all die grauenhaften Fakten um den Absturz lesend, mailt an ihre Eltern: „Wäre es ein technischer Fehler gewesen, man könnte ihn beseitigen … aber der Mensch ist eben die unberechenbare Variable dabei …“ Die ältere der beiden Töchter fliegt zur gleichen Zeit von Südamerika nach Europa zurück. Die Eltern bangen. Was ist schon Vernunft?

Der Mensch als unberechenbare Variable: Das wissen wir freilich schon länger, tröstlich ist es nicht, denn wir blenden ja, quasi als Selbstschutz, aus, was man menschliches Versagen nennt. Und seit 9/11 ist der ganzen Welt zudem klar, dass auch ein Verkehrsflugzeug zur Waffe werden kann, zum Mordinstrument, oder Mittel zum Suizid – der in diesem Fall den Tod, die Tötung von 149 unbeteiligten Menschen einschloss. Und dennoch werden wir, nach einer Phase des Zweifelns, wieder in Flugzeuge einsteigen, werden wieder darauf bauen, dass die Frauen und Männer, die uns fliegen, selbst auch lebend ans Ziel kommen wollen. Wir werden davon ausgehen, dass die Airlines auch dieses Risiko der Selbstzerstörung eines kranken Menschen zu minimieren suchen. Etwa, indem sie auch in Europa zur Regel machen, was in den Vereinigten Staaten schon lange gilt: dass Pilot oder Kopilot niemals alleine im Cockpit sein dürfen, dass dem Zurückbleibenden ein Crewmitglied an die Seite gestellt wird, bis der andere vom Gang zur Toilette wieder zurückgekehrt ist.

Das Fliegen hat den Menschen weltläufig gemacht

Ob das Fliegen ein Mythos bleibt, ob es überhaupt noch einer ist – an beidem darf, muss man zweifeln. Im Vergleich zu den Zeiten, in denen Antoine de Saint-Exupéry Flugzeuge steuerte, in offenen Pilotencockpits, mit Lederjacke und Lederkappe notdürftig vor Unwettern geschützt, in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen Leuchtfeuer und Leuchttürme der Orientierung dienten und nicht Radar und Funkfeuer, als Motoren plötzlich Öl verloren und stehen blieben, Maschinen in der Wüste notlandeten, ist das Fliegen heute – Statistiker rechnen es auch jetzt gerade wieder vor – sicherer als Autofahren.

Und was darüber hinaus gilt: Kein Verkehrsmittel hat den Menschen so frei, so gleich, so weltläufig gemacht wie das Fliegen. Dass Millionen Menschen heute geschäftlich oder privat um den Globus fliegen, ferne Länder kennenlernen, mehr von ihren Antipoden, aber auch von ihren europäischen Nachbarn wissen als Menschen jemals zuvor – ohne das Fliegen wäre es undenkbar. Fliegen zu erträglichen Preisen hat unsere Welt demokratischer, republikanischer, gleichberechtigter gemacht. Afrika, Asien, Australien bereisen zu können, ist heute kein Privileg einer kleinen, reichen Oberschicht mehr, sondern ein Erfahrungshorizont, den sich jeder weiten kann, wenn er sein Geld darin und nicht in andere, viel weniger wesentliche Dinge investiert. Denn die Welt zu kennen, zu wissen, wie in anderen Teilen der Welt gelebt wird, lässt uns gleichzeitig näherrücken, trotz der Entfernungen. Wenn der Satz von der „einen Welt“ jemals fassbar war, dann heute – dank der Fliegerei, dank des Luftverkehrs.

Was im Großen gilt, ist aber auch in kleinerem Maßstab, in Deutschland zum Beispiel, richtig. Dass eine Teil-Stadt wie West-Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl von Gegnern blockiert und eingeschnürt, fast ein Jahr lang am Leben erhalten, mit allem versorgt werden konnte – ohne das Flugzeug wäre es undenkbar gewesen. Mythos Luftbrücke nennen wir es noch heute. Dass dann, weitere Jahrzehnte, das gleiche West-Berlin unbehindert zugänglich blieb für den freien und unzensierten Austausch von Meinungen, Fakten und Menschen – ohne die Flugverbindungen zwischen Tegel und Tempelhof hier und Frankfurt/Main, Stuttgart, Hannover, Hamburg dort, um nur einige zu nennen, wäre es undenkbar gewesen.

Man kann aber über den Mythos Fliegen auch nicht nachdenken, ohne über die Lufthansa zu reden. Nach Berlin durfte die Lufthansa vor der Wende nicht fliegen. Aber der Mythos Fliegen selbst hängt für Berlin, hängt für die Deutschen ganz unmittelbar mit der Lufthansa zusammen. In Berlin wurde die Gesellschaft 1926 gegründet. Bis 1994 war die Lufthansa der offizielle Flagcarrier der Bundesrepublik. Sie war so etwas wie ein Stück deutschen Bodens, das man irgendwo auf der Welt auf einem Flughafen betreten konnte. Nach wochenlangen Reisen durch Peru, Chile und Bolivien mit dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED), der Einstieg in die B 707 mit dem Kranich auf dem Flughafen von Lima – das war so etwas wie Heimatgefühl. Nach langen und nicht ungefährlichen Reportagereisen durch das südliche Afrika in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, belauert von südafrikanischen Zivilfahndern, die jeden Kontakt mit Gegnern des Apartheidregimes zu unterbinden suchten, endlich auf der Gangway in die Lufthansamaschine auf dem Airport von Johannesburg – das war gefühlte Sicherheit, da konnte einem nichts mehr passieren.

„Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“

Lufthansa war in jenen Zeiten ein Synonym für Zuverlässigkeit, stand als Symbol für die Industrienation Deutschland, auch wenn die Maschinen, mit denen wir flogen, aus Amerika kamen. Die Umwälzungen im Luftverkehr, das Aufkommen der Billig-Airlines, die Konkurrenz der aus schier unerschöpflichen Geldquellen genährten Staatsairlines am Golf, das alles hat an der Einzelstellung des einstigen einzigen „Homecarriers“ genagt. Die Privatisierung hat zu einem rigorosen Kostendenken geführt, das für die Mitarbeiter manchmal leidvoll und für die Passagiere nicht immer gemütlich ist. Der Ruf der Lufthansatechnik freilich ist immer noch legendär, und nicht ohne Grund nutzen in Deutschland viele andere Airlines diesen Service, der für die Flugfähigkeit der Maschinen garantiert. Auch Germanwings und demnächst Eurowings lassen ihre Jets hier warten. Und so etwas wie eine nicht abreißend Verbindung zu Deutschland ist es immer noch, wenn man in einem fernen Winkel der Welt auf einem Flughafen in einen Jet der Lufthansa steigt – oder, so viel Berliner Heimatgefühl muss sein, in einen Flieger der Air Berlin. Auch das gehört zum Mythologischen des Themas Fliegen.

Vertrauen allerdings gründet sich, in dieser Woche ist es uns schmerzlich bewusst geworden, nicht nur auf das zuverlässige Dröhnen der Motoren, wie es Reinhard Mey schon vor 30 Jahren besungen hat, sondern auch auf jene Menschen, denen wir uns anvertrauen. Plötzlich schauen wir beim Betreten eines Flugzeugs nicht mehr desinteressiert in die freundlichen Gesichter der Stewards und Stewardessen, sondern suchen das Auge des Piloten oder Kopiloten. Und es wird uns vielleicht etwas bange dabei. Das spüren nicht nur die Passagiere, die Crew selbst spürt es auch. An dieser Stelle passt es, ein paar Zeilen zu zitieren, die eine Passagierin der Germanwings am 25. März, also am Mittwoch, auf Facebook gepostet hat und die vielen Menschen aus der Seele geschrieben schienen. Sie lauten:

„Gestern morgen um 8:40 h stieg ich mit gemischten Gefühlen in einen Germanwings Flug von Hamburg nach Köln. Doch dann begrüßte der Kapitän nicht nur jeden Passagier persönlich, sondern hielt vor dem Start noch eine Ansprache. Nicht aus dem Cockpit, sondern sichtbar aus der Kabine. Darüber wie ihn und die Crew das Unglück getroffen hat. Darüber dass auch die Crew ein flaues Gefühl hat, aber alle freiwillig da sind. Und darüber, dass auch er Familie hat und dass er alles dafür tut abends wieder bei Ihnen zu sein. Es war völlig still. Und dann hat der ganze Flieger applaudiert. Ich möchte diesem Kapitän danken. Dafür dass er verstanden hat was alle dachten. Und dafür dass er es schaffte dass zumindest ich danach ein gutes Gefühl bei dem Flug hatte.“ (Schreibweisen und Zeichensetzung nach dem Originalpost) Bis Freitagabend hatten das 282 434 Menschen mit einem „Gefällt mir“ versehen.

Man könnte an dieser Stelle noch einmal, wie am Beginn des Textes, Antoine de Saint-Exupéry zitieren, der in seinem Märchen vom Kleinen Prinzen den klugen Fuchs zu dem Jungen sagen lässt: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ Lebenslang – das muss hier nicht sein. Aber einen Flug lang, immer mal wieder. Und wieder. Das wäre schön.

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