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Politik: Was die Gesellschaft verletzt

GENERATIONENKONFLIKT

Von Giovanni di Lorenzo

Es ist am Ende vielleicht doch ganz gut, dass die unseligen Äußerungen von Philipp Mißfelder ein solches Echo gefunden haben. Aber nicht etwa, weil damit die längst fällige Auseinandersetzung über eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Generationen angestoßen worden ist, wie die Unterstützer des JUChefs jetzt verbreiten. Diese Debatte wäre ohnedies gekommen, und sie muss geführt werden, auch wenn sie für alle Beteiligten schmerzhaft sein wird. Was am bösen Wort von den 85-Jährigen, die nicht unbedingt noch ein künstliches Hüftgelenk bräuchten, denn früher seien sie schließlich auch auf Krücken herumgelaufen, so verletzend wirkt, ist die Ahnung von gesellschaftlicher Verrohung, die uns nicht nur droht, sondern die offensichtlich begonnen hat. Und der entgegenzusteuern wäre lohnender und nachhaltiger als manches Reformprojekt, das in diesen Zeiten so leidenschaftlich diskutiert wird, als hinge allein davon die Zukunft Deutschlands ab.

Das Ärgerlichste am Mißfelderschen Schuss aus der Hüfte ist das Bild älterer Menschen, das es freisetzt. Es zeigt ein Zerrbild: eine Bevölkerungsgruppe, die angeblich auf Kosten jüngerer Menschen eine unangemessen teure Versorgung in Anspruch nimmt, obwohl es ihr finanziell so gut wie nie zuvor geht. Als gebe es nur weltreisende, topfitte Ruheständler und keine Alten, die lediglich über eine kleine Rente verfügen. Oder das Schicksal von Krankheit und Einsamkeit zu tragen haben. Jeder, der Angehörige in Krankenhäusern oder Altersheimen besucht, kann erfahren, wie leicht sich Menschen gedemütigt fühlen, weil sie wegen ihrer Gebrechen wehrlos sind. Oder weil ihnen nicht genug Achtung und Zuwendung zuteil wird, als hätten sie wegen ihrer geringeren Lebenserwartung und ihrer Erwerbslosigkeit weniger Recht auf Leben als Jüngere.

Zwar darf diese Not nicht instrumentalisiert werden, um den Besitzstand wohlhabender älterer Menschen auf Ewig zu wahren, auch wenn sie in der Lage wären, etwas abzugeben. Aber eine Gesellschaft, die – wie im Fall der Hüftgelenke – den Einsatz von medizinischen und anderen Errungenschaften sozusagen vom Nutzwert der Menschen abhängig machen wollte, zementiert einen Materialismus, der nicht einmal zur Lösung der Probleme beiträgt, die zu Recht angeprangert werden. Wir müssen ja die Folgen der befürchteten demographischen Katastrophe eindämmen. Generationengerechtigkeit, um das Wort einmal aufzugreifen, bedeutet, dass die heute Jungen später noch etwas von dem zurückbekommen müssen, was sie in die Sozialversicherungssysteme einzahlen. Die Staatsverschuldung darf die kommenden Generationen nicht erdrücken. Das Gesundheitssystem muss radikal saniert werden, so dass es nicht auf Kosten der Alten geht. Das Kinderkriegen darf nicht mit höheren Lasten verbunden werden und ruhig einen Wert an sich darstellen. Wenn alle Opfer bringen müssen, kann es auch keinen Automatismus mehr geben, nach dem Renten weiter steigen.

All das aber braucht nicht die Demontage, sondern den Ausbau der Solidargemeinschaft. Paradoxerweise hat zum Beispiel die Pflegeversicherung auch daran gerüttelt, nicht nur, weil sie sich als unfinanzierbar erwiesen hat. Sie trägt zwar der gesellschaftlichen Realität von Vereinsamung und höherem Lebensalter Rechnung. Gleichzeitig hat sie aber die Pflege alter Menschen entsorgt und auch vielen Familien entzogen, die dazu noch in der Lage wären und dabei lernen könnten, dass Generationen einander brauchen. Süditalien gilt als Hort verschworener Familien. Im sizilianischen Caltanisetta wurde im Juli eine 80-jährige Mutter von zehn erwachsenen Kindern in glühender Hitze ausgesetzt und von der Polizei gefunden. Sie ist pflegebedürftig, aber keines der Kinder hatte gerade Zeit. Da muss eben, verteidigte sich einer der Söhne vor italienischen Reportern, jemand anders einspringen. Er meinte wohl den Staat.

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