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Allein durch den Sand. Ein Soldat nahe des Gazastreifens.

© AFP

Was droht Israel?: Zu Besuch an den brisantesten Grenzen

Jeden Moment könnte die nächste Rakete einschlagen. Jeden Moment könnte es vorbei sein. Deshalb sind Israelis immer auf der Hut – und so bedacht auf ihre eigene Sicherheit. Wo die Gefahr sichtbar wird.

Von Katrin Schulze

Giftgrüne Miniautos stehen bereit und zum Ausruhen bunte Stühlchen. Darüber hängen Luftballons von gelben und himmelblauen Wänden. Wer Lust hat, kann auf einer Hüpfburg springen wie ein Flummi oder die Rutsche hinuntersausen. Es sieht aus wie ein Paradies für Kinder. Nur hat das Paradies keine Fenster, kein Tageslicht. Denn jeden Moment könnte der Alarm losgehen und die nächste Rakete ankündigen.

15 Sekunden haben die kleinen und großen Einwohner der Stadt Sderot dann Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. 15 Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden können. Deshalb üben alle regelmäßig, wie sie sich in 15 Sekunden am schnellsten und klügsten anstellen, wie sie Unterschlupf finden. Jedes Wohnhaus hier hat einen raketensicheren Schutzraum, jede Bushaltestelle, jede Schule, jeder Kindergarten. „Es gibt keine Stelle in dieser Stadt, in der noch keine Rakete eingeschlagen ist“, sagt Kobi Harush. Und der muss es wissen.

Harush leitet den Sicherheitsdienst in Sderot, dieser Stadt im Süden Israels, die vor allem dadurch bekannt ist, dass sie an den Gazastreifen grenzt. Hier wird die latente Bedrohung und die Angst eines ganzen Landes konkret sichtbar. Kaum einen Kilometer ist Gaza entfernt. Auf einem Hügel am Stadtrand hat man die beste Aussicht auf die Häuser der nahen fremden Welt, zum Zaun und zur Grenzstraße, auf der hin und wieder ein Militärfahrzeug patrouilliert. Sderot ist das nächste und einfachste Ziel für die Raketen- und Granatenangriffe aus dem Palästinensergebiet. 8600 davon hat Harush nach eigenen Angaben in den zurückliegenden zwölf Jahren in und um seine Stadt gezählt.

Einige Geschosse hat er im Hof seiner Polizeistation gelagert. Ein Haufen Schrott hinter Glas, auf das die Sonne brennt. Größtenteils sind es simpelste Teile, die wie verrostete Rohre aussehen – nicht zu vergleichen mit denen, die in die andere Richtung fliegen, aber ähnlich gefährlich. „Man weiß nie, wann es wieder losgeht, in drei Minuten oder drei Monaten“, sagt Harush. Das ist auch der Grund, warum die meisten Kinder in der Stadt nie gelernt haben, Fahrrad zu fahren oder Fußball zu spielen: Die Eltern haben Angst, dass sie es nicht rechtzeitig bis zum nächsten Schutzraum schaffen. 15 Sekunden sind nicht viel.

Wer kann, der flieht von diesem Ort

So spielt sich das Leben in Sderot weitestgehend hinter dicken Wänden ab. Die Stadt wirkt äußerlich verwaist, kaum jemand ist auf der Straße. Gegen 14 Uhr spuckt der Schulbus ein paar Kinder aus, die auf schnellstem Weg nach Hause gehen. Und dann sind an diesem Nachmittag im Juni noch ein paar junge Frauen und Männer unterwegs, den Rucksack geschultert, bereit für den nächsten Einsatz. In der Armee sind sie, genau wie Kobi Harushs Sohn. Auch bei seiner Tochter, die noch zur Schule geht, wird es irgendwann so weit sein.

Er lässt es sich nicht anmerken. Das würde auch nicht zu dem groß gewachsenen Mann mit dem kurz geschorenen dunklen Haar und dem harten Gesicht passen. Wenn andere sich in die Bunker begeben, weil die Sirene wieder losheult, dann gebietet es sein Job, dass er hinausgeht, dass er der Gefahr begegnet. Aber bei Kobi Harushs Erzählungen über Freunde wird sie deutlich, die Sorge um die anderen, auch um seine eigene Familie. „Oft kann eine Mutter nicht alle ihre Kinder retten in den 15 Sekunden“, sagt der 54-Jährige. „Sie muss sich dann entscheiden, welche sie zurücklässt.“ Das sei ein Teil des Lebens ganz nah an der Grenze.

Wer kann, der flieht. Ein Viertel der Bewohner hat Sderot verlassen. Geblieben sind etwa 20 000 Menschen, die es sich bislang nicht leisten konnten wegzuziehen. Sie leben nicht nur mit den vielen Bildern und Erinnerungen, sondern auch mit der täglichen Panik. Zwei Drittel aller Kinder der Stadt befinden sich Kobi Harush zufolge in therapeutischer Behandlung. Deswegen gibt es auch die ummauerte Einrichtung mit der Hüpfburg und den grünen Miniautos. Die Kleinen sollen für einen Moment vergessen können und Abwechslung finden. In dem Kinderparadies mitten in der Hölle.

Die Nachbarn? Kennt man kaum.

Die Nachbarn? Kennt man kaum.

Asher Susser nennt es anders. „Israel ist eine stabile Gesellschaft am Rande eines Vulkans“, sagt der Professor für Nahost-Studien. Er meint, dass der Vulkan jeden Moment irgendwo ausbrechen und Israel mit verbrennen kann. Das muss man wissen, um zu verstehen, warum den Israelis ihre Sicherheit wichtiger ist als alles andere. Warum sie Angst haben, von allen Seiten zerquetscht zu werden. Warum der Staat seine Bürger drei Jahre lang zum Wehrdienst verpflichtet – egal, ob Mädchen oder Junge. Nie wieder will man sich unterdrücken lassen, sondern nur noch selbstbestimmt handeln.

„Die Hauptfrage ist, wie wir unseren jüdischen Staat erhalten können“, sagt Susser. „Das Hauptproblem ist, dass wir Nachbarn haben, die wir gar nicht kennen.“ Jordanien zum Beispiel: Das galt zwar bisher als sicher, doch was passiert mit den vielen Flüchtlingen aus Syrien dort? Oder der Libanon, wo die verfeindete Hisbollah immer mächtiger zu werden droht. In Ägypten ist die Situation nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi gänzlich ungewiss. Und dann ist da noch der Bürgerkrieg in Syrien.

Zu hören und manchmal auch zu sehen ist er auch in Israel. Weit weg von Sderot, ganz im Norden des Landes auf den Golanhöhen. Eine winzige, von Minenfeldern umzingelte Straße führt hierher. Und je mehr man der Grenze entgegenfährt, desto heftiger knallt und wummert es. Dumpf, aber deutlich. Die Geräusche kommen heute jedoch nicht aus Syrien, sondern von israelischer Seite. Die Armee hat ihre Truppen hier verstärkt und probt den Ernstfall – falls der Krieg doch übergreifen sollte auf ihr Gebiet. „40 Jahre lang war Israels Grenze zu Syrien die sicherste“, sagt Eyal Ben Reuven. „Nun ist sie wahrscheinlich die gefährlichste.“

Manchmal schlagen Querschläger aus Syrien ein

Eyal Ben Reuven ist Kommandeur der Reserve hier im Norden und trägt sein bewegtes Leben im Gesicht. Von tiefen Falten durchzogen ist es, ein paar Narben hat es auch. 1973 überlebte Ben Reuven den Jom-Kippur-Krieg, was insofern erstaunlich ist, als dass der Rest seiner Einheit fiel. Da war er 19. Danach machte er große Karriere im Militär, studierte unter anderem am Carlisle Army War College in Pennsylvania und brachte es schließlich bis zum Generalmajor. Wie sehr ihn das geprägt hat, versucht er erst gar nicht zu verheimlichen.

Während der Wind pfeift auf einem Aussichtspunkt, der im Zweifelsfall schnell zum israelischen Angriffspunkt wird, erzählt er pausenlos von den alten und neuen Auseinandersetzungen – so detailreich, dass es schwer fällt, ihm zu folgen, so nüchtern wie von seinem letzten Einkaufsbummel. Es geht um Panzertechnik und um strategische Fehler im Krieg damals. Um Angriffe hier, Verwundete dort und um viele Tote. Seinen Kindern möchte Ben Reuven das eigentlich ersparen. Dass es gelingt, glaubt er nicht. „Im Moment ist es so, dass beinahe jeder Israeli jemanden kennt, der einen Verwandten im Krieg verloren hat“, sagt er. „So sollten Kinder nicht aufwachsen. Aber ich fürchte, dass wir noch nicht so weit sind.“

Zu unwägbar ist vor allem die Situation hier direkt an der syrischen Grenze. Keine 70 Kilometer sind es bis zur syrischen Hauptstadt Damaskus. Direkt am Fuße des Hügels liegt das UN-Hauptquartier, das die Österreicher Anfang Juni verlassen haben, weil es ihnen zu heikel wurde. Den Aufständischen war es zeitweise gelungen, den einzigen Grenzübergang zwischen Israel und Syrien bei der Stadt Kuneitra unter ihre Kontrolle zu bringen. Bei den heftigen Kämpfen detonierten Granaten überall in der Gegend – auch auf israelischer Seite. Der Reserveoffizier zuckt mit den Schultern. So ist Krieg, soll das wohl heißen. Dazu gehören auch die Querschläger, die ab und zu ein grenznahes Dorf treffen. Vielleicht sogar absichtlich?

Auf einmal kaufen sie mehr Gasmasken als sonst

Ganz bestreiten mag das Eyal Ben Reuven nicht. Ihn treibt wie viele seiner Landsleute die Angst, dass der Krieg aus Syrien übergreifen könnte, dass die Rebellen auf den Golanhöhen und mit den Israelis weitermachen, wenn sie Assads Truppen erst einmal besiegt haben. Dabei hofften zu Beginn noch viele, dass Machthaber Baschar al Assad gestürzt wird. Nun ist nicht nur Ben Reuven anderer Meinung. „Bei Assad weiß man, woran man ist“, sagt er. „Die Rebellen aber sind mittlerweile eine undurchschaubare, zerfaserte Truppe, die zu allem bereit ist.“ Ein bekannter Bastard ist immer noch besser als eine unberechenbare Bestie, lautet das Motto. Der Hisbollah zum Trotz.

Denn das ist der Punkt, an dem es kritisch wird. Jedenfalls, wenn man dem ehemaligen Major glauben mag: Sollte Israel mitbekommen, dass die aufseiten Assads agierende Hisbollah an der Front mitkämpft, müsse man eingreifen. Vor einigen Wochen soll es schon so weit gekommen sein. Israelische Kampfflugzeuge wurden verdächtigt, Raketenlieferungen an die Schiitenmiliz auf syrischem Staatsgebiet bombardiert zu haben. Seitdem dies öffentlich wurde, kaufen die Menschen hier im Norden so viele Gasmasken wie lange nicht mehr. Haben sie noch mehr Angst. Vor dem nächsten Krieg.

Die Autorin ist im Rahmen von „Project Interchange“, einem Bildungsprogramm des American Jewish Committee, eine Woche durch Israel gereist.

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