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Politik: Was heißt schon bürgerlich?

Von Gerd Appenzeller

Horst Köhler hat das Glück, dass man ihm noch zuhört. Angela Merkel das Pech, dass man nicht mehr auf alles achtet, was sie äußert. Der angehende Bundespräsident liebt dieses Land und prompt hebt eine Debatte an, ob man so etwas laut sagen darf. Die vielleicht angehende erste Kanzlerin hält Köhlers Wahl für „ein Zeichen der bürgerlichen Parteien gegen RotGrün“, und niemandem fällt das auf. Bürgerliche Parteien? Huch! Was ist das überhaupt?

Was es einst war, bestimmt nicht mehr. Die Liberalen und Konservativen, die sich vor mehr als 150 Jahren ständisch organisierten, sind kaum tauglich als Vorbild für eine moderne Volkspartei. Es ist eben schwer, wenn man mit den Vokabeln des 19. Jahrhunderts die Befindlichkeiten des 21. charakterisieren will. Aber irgendwas wird sich Angela Merkel ja gedacht haben.

Wollte sie sich vielleicht zurückmelden mit dem Anspruch auf eine Eigenschaft, die sinnbildlich für gesicherte Verhältnisse steht? Bürgerlich, das riecht nach einem warmen, vor dem Gestank der globalisierten Welt geschützten Raum. Vor einem Vierteljahrhundert war das ganz anders – da stand „bürgerlich“ für Restauration und nichts dazugelernt. Bürgerlich wollte kaum jemand mehr sein. Bürgerlich – das war wie scheintot. Und es hat ja auch durchaus nachvollziehbare Gründe dafür gegeben, dass die Studenten des Jahres 1968 und folgende als Bürgerschreck durch die etablierte Gesellschaft tobten.

Ein Handbuch der Moral von 1789 definierte als bürgerliche Tugenden Pünktlichkeit und Ordnung, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit, Fleiß und Arbeitsamkeit. Einige der Blüten aus diesem nicht so recht nach einem selbstbestimmten Leben klingenden Tugendstrauß schrieb 200 Jahre später Oskar Lafontaine seinem Parteifreund Helmut Schmidt zu – und merkte an, es seien die Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ leiten könne.

So weit wie das zitierte Handbuch wird Angela Merkel in ihrem Verständnis der Bürgerlichkeit nicht gehen wollen. Ihr geht es ja um Inhalt, nicht um Form. Es steckt der Anspruch dahinter, für ein festes und eher tradiertes Wertesystem stehen zu wollen. Die CDU-Chefin muss freilich aufpassen, dass es nicht zu biedermeierlich verstanden wird. Denn der Präsident, den Union und Liberale auf den Schild gehoben haben, wirbt mit Forderungen nach Mut, Initiativen und Kreativität eher für frischen Wind.

Die Begriffe sind eben nicht mehr eindeutig. Was ist denn schon bürgerlicher als Horst Köhler, der noch heute voll gespielten Entsetzens über die frühe Vaterschaft seines 17-jährigen Sohnes spricht – oder als Gesine Schwan, die sich an ihrem 61. Geburtstag verlobt? Was ist bürgerlicher als die SPD, die jahrzehntelang dafür kämpfte, dass auch Arbeiter in den Besitz all der Attribute bürgerlichen Lebens kommen sollten, vom Auto bis zur adäquaten Bildung? Was ist bürgerlicher als eine FDP, die verbal die Welt auf den Kopf stellt, aber ganz real Privilegien ihrer mittelständischen Klientel bewahren möchte? Was ist (klein)-bürgerlicher als die PDS, die das Einst konservieren und das Jetzt nicht wahrhaben möchte?

Bürgerlich, das gehört zu den Begriffen, die so lange überbetont werden, bis man sie nicht mehr ertragen kann. Dann verschwinden sie ein paar Jahrzehnte in der Ecke, bis die nächste Generation sie entdeckt. Die säubert den Begriff, hübscht ihn ein wenig anders auf und stellt ihn erneut stolz auf die Anrichte. Auch so ein bürgerliches Möbelstück.

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