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Politik: Was unsere Welt zusammenhält

Sünde oder nicht? Wen interessiert schon wirklich, was der Vatikan über Homosexualität denkt?

Sünde oder nicht? Wen interessiert schon wirklich, was der Vatikan über Homosexualität denkt? In den Pfarreien herrscht allenfalls Achselzucken, auf Katholikentreffen rangiert die päpstliche Sexualmoral seit Jahrzehnten als peinlichrückständig – und in der evangelischen Nachbarkirche arbeiten Homosexuelle offen als Pfarrer. Wie kommt es dann, dass der päpstliche Berater und am Mittwoch mit zur Abstimmung stehende EU-Kommissar Italiens, Rocco Buttiglione, die gesamte EU-Politik mit diesem Thema in Atem hält? Wie schon bei der Diskussion über einen Gottesbezug in der EU-Verfassung, die am Freitag unterzeichnet wird: Im Kern geht es um den künftigen Stellenwert von Religion in Europa. Anlässe, darüber nachzudenken, gäbe es genug. Nur nicht ausgerechnet die päpstliche Sexualmoral, welche blind an dem geistigen Muff der naturrechtlichen Geschlechterlehre festhält.

Europa versteht sich, wie seine Mitgliedstaaten, als weltanschaulich neutral. Glaubenshaltungen und Organisation des Gemeinwesens sind im Prinzip getrennt, auch wenn beim Verhältnis von Staat und Kirche zahlreiche Spielarten existieren. Die EU-Verfassung beispielsweise folgt stärker dem französischen Laizismus als dem Modell säkularer Kooperation aus Deutschland. Das macht Europa nicht zu einem religionsfreien Raum. Denn auch der alte Kontinent, dem religiös-politische Massenerweckungen wie in den USA fremd sind, bleibt angewiesen auf Werte und Überzeugungen, die ihm aus Kirchen und Religionsgemeinschaften zufließen. Die Ressource Ethik ist ein knappes Gut. Sie ist keine Selbstverständlichkeit. Und es ist nicht gleichgültig, ob sich die Voraussetzungen für ein zivilisiertes und soziales Zusammenleben immer neu regenerieren oder nicht.

Beispiel soziales Europa: Das moderne Sozialstaatsdenken ist entstanden in der jüdisch-christlichen Tradition. Was aber geschieht, wenn diese religiös-ethische Energiequelle eines Tages ausgetrocknet ist? Wie zuständig fühlen sich dann noch die Kräftigen und Wohlbestallten in der Sorge für Arme, Arbeitslose oder Behinderte? Wie lassen sich solche ethischen Fundamente in Zukunft sichern, wenn die ursprünglichen christlichen Impulsgeber zu Minderheiten geschrumpft sind und ihr Überzeugungspotenzial immer schwächer wird?

Beispiel Familienpolitik: Das christlich geprägte Elternideal hat in vielen europäischen Sozialsystemen zu einer Fixierung auf den Idealtyp des männlichen Alleinverdieners geführt. Die Frauen brachte das in einen Grundsatzkonflikt zwischen Familie und Beruf – mit einschneidenden Folgen für die Gesellschaft. Immer mehr entscheiden sich gegen Kinder, weil sie arbeiten wollen. Das christliche Familienideal ist also inzwischen dabei, sich selbst zu zerstören; und die demografische Basis der Sozialsysteme gleich mit – nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Heimat von Rocco Buttiglione. Dieser Konflikt ist so fundamental, dass er inzwischen fast ganz Europa beschäftigt.

Wie kann es weitergehen? Müssen private und öffentliche Zuständigkeiten für Familien nicht ganz neu verteilt werden? Und was können die Christen, deren Familienideal so lange dominiert hat, dazu beitragen, aus der Sackgasse zu finden? Haben sie Argumente gegen türkische Islamisten, die in der EU für die verschleierte Frauenrolle werben? Fragen über Fragen, die zeigen: Für das Mittun der Kirchen gibt es auch im 21. Jahrhundert noch reichlich Bedarf – anders als für katholische Moralformeln aus dem 19. Jahrhundert.

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