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Wechsel in Bellevue: Gaucks größte Herausforderung

Zwei Begriffe prägen das Denken von Joachim Gauck: Freiheit und Verantwortung. Und er zehrt dabei ganz und gar von den Erfahrungen der Welt vor 1989. Vielen Problemen der Gegenwart wird er sich als Präsident noch stellen müssen.

Vielleicht darf man sich den konservativ aufgeklärten, sozial-liberaldemokratischen Bürger Joachim Gauck als vormaliges Mitglied einer Art Turmgesellschaft vorstellen. Nur ist damit nicht an ein Bauwerk aus Elfenbein zu denken.

Die Turmgesellschaft in Goethes „Wilhelm Meister“, dem großen deutschen Bildungsroman aus der Zeit der zu Ende gehenden Französischen Revolution, ist ein nicht leicht begreiflicher Geheimbund, in dem Goethe die Ideen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eher skeptisch, was ihre gewaltsame Durchsetzung angeht, aus urliberaler, fast aristokratischer Sicht reflektiert. Und seinen Helden Wilhelm Meister statt Vorherbestimmung eigene Tatkraft lehrt. Man könnte auch sagen: Freiheit und Verantwortung.

Das sind die beiden Schlüsselbegriffe, um die Joachim Gaucks ganzes Denken kreist. Der designierte Bundespräsident stammt zwar aus Rostock, aber er gehörte zu DDR-Zeiten als evangelischer Pastor auch zu dem gesellschaftlichen Milieu, das der Schriftsteller Uwe Tellkamp 2008 in seinem tausendseitigen Erfolgsroman „Der Turm“ noch einmal wachgerufen hat. Tellkamps „Turm“ spielt in Dresden, endend mit dem 9. November 1989, aber seine Gesellschaft ist die der zumeist protestantischen DDR-Bildungsbürger, die durchaus mehr als nur eine systemresistente Nischen-Kultur verkörpert haben. Wobei Gauck das Wort Bildungsbürger als Ehrenwort nimmt. Nur der „Bürger Gauck“ war ihm in seinem untergegangenen Staatswesen sehr zuwider.

„,Bürger, weisen Sie sich aus!’, sagte der Volkspolizist, wenn er junge Menschen auf der Straße anhielt ...“ Das steht in seinem Büchlein „Freiheit“, Untertitel „Ein Plädoyer“, das soeben im Münchner Kösel-Verlag erschienen ist. Es hat nur 63 Seiten, passt in eine Jackentasche und wird nun mit einiger Sicherheit ein Bestseller werden. Gauck legt darin die leicht überarbeitete Fassung einer teils locker persönlichen, teils pastoral politischen Neujahrsrede vor, die er im Januar 2011 in der Evangelischen Akademie Tutzing gehalten hat. Geplant und gedruckt wurde das vor der jüngsten politischen Wende. Aber natürlich liest man das jetzt als Credo des künftigen Staatsoberhauptes.

Ein streitbarer Demokrat...

Gleich zu Anfang zitiert der belesene Redner ein Bonmot Heinrich Heines: dass die Engländer die Freiheit wie ihr Eheweib liebten, die Franzosen sie umschwärmten wie ihre begehrte Braut, der Deutsche dagegen sie schätze „wie seine Großmutter“. Über die geschichtliche Abspaltung von individueller Freiheit und nationalstaatlicher Souveränität oder gar den Unterschied zwischen dem Bürger als bourgeoisen, allenfalls wirtschaftsfreien Untertan und dem politisch emanzipierten Citoyen erfährt der Leser hier freilich nichts.

Das mag man kritisieren, und die Kritik-Freudigkeit gegenüber dem Mann, den fast alle deutsche Welt vor und während der Wulff-Zeit noch als „Präsident der Herzen“ (und auch der Hirne) zu preisen wusste, hat ja nicht nur im Internet Blitzkonjunktur. Aber es bringt doch wenig, Gauck vorzuhalten, was er nun alles nicht gesagt hat.

Gesagt und geschrieben hat er in seiner „Freiheit“ zum Beispiel das: „Frieden ist zweifellos eines der ganz großen politischen Ziele und eine große theologische Vision. In konkreten Situationen aber kann der Verzicht auf Gewalt auch bedeuten, der Gewalt von Unterdrückern und Aggressoren den Weg zu ebnen oder ihren Terror zu dulden.“ Das ist eine Absage des Ex-Pastors an jenen Pazifismus, den etwa die Protestantin Margot Käßmann predigt, und es lässt sich leicht voraussagen, dass der Bundespräsident Gauck etwa mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nur dann Probleme bekommt, wenn sie und die Nato den Taliban das Feld allzu früh überlassen.

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler ist zweifellos ein streitbarer Demokrat – dem Formulierungen in Live-Gesprächen auch mal sehr schnell über die Lippen gehen. Dabei werden etwa seine diversen Kommentare zur Finanzkrise und zur „Occupy“-Bewegung oft stark verkürzt oder in ihren Wertungen ohne weiteren Kontext nur sehr pointiert („albern“) wiedergegeben.

In seinem „Freiheits“-Brevier, in dem „ich für Freiheit als Verantwortung werbe“, kommt die soziale Verantwortung von Mächtigen und Besitzenden, von Institutionen oder Wirtschaftsunternehmen tatsächlich kaum vor, sie klingt allenfalls mittelbar an. „Ja, es gibt auch Mängel unserer Demokratie und Marktwirtschaft“, schreibt Gauck: im Stil der gesprochenen, weniger von Philosophie oder Soziologie als von einem eher angelsächsischen (oder: norddeutschen) Common Sense getragenen Rede.

Er beschwört „ständig notwendige Verbesserungen“, für die es freilich keiner grundsätzlichen, die Marktwirtschaft infrage stellenden Alternative bedürfe. Gauck beharrt hier auf seiner eigenen Lebenserfahrung und der Absage 1989/90 an eine andere, bessere DDR. „Sogar die Ostdeutschen und die linken Protestanten sind darauf gekommen, dass wir keinen neuen, dritten Weg ersinnen konnten.“

...der einen auch mal kopfschütteln macht.

Gauck wendet sich also dagegen, im Zuge der Finanzkrise, „eine neue Variante von Antikapitalismus in die politische Debatte zu bringen“, vertieft das Thema jedoch nicht im Sinne neuerer, komplizierter ökonomischer Fakten und Analysen. Wieder steht für ihn der Einzelne im Mittelpunkt, den er zur Wahrnahme der Freiheit und zur Übernahme eigener Verantwortung „ermächtigen“ möchte. Joachim Gauck zielt auf das Individualpsychologische – ungeachtet der Frage, ob es auch in der Demokratie Gründe für individuelle oder auch gesellschaftliche Ohnmacht geben mag, die den Menschen die freie Wahl und das selbstbestimmte „Glück“ gar nicht mehr lassen.

Stattdessen wird Gauck, der doch auch zu den Herzen sprechen möchte, überraschend abstrakt. Er hat verstaatlichte Banken im Realsozialismus erlebt, aber plötzlich springt er, wie auch in einem Fernsehinterview auf 3sat vom letzten November, zum marxistisch-philosophischen Begriff der „Entfremdung“. Laut Marx, Engels & Co. wurzelt die Entfremdung des modernen Menschen in der Arbeitsteilung und in der Trennung von Arbeit und Kapital. Gauck sagt, er kenne „ganze Erdteile, in denen fast keiner über Kapital verfügte, aber die Entfremdung viel größer war“ als im Kapitalismus.

Das klingt einerseits plausibel. Das eigene Gedankenkapital aber zehrt dabei wieder vornehmlich aus den Erfahrungen der Welt bis 1989/90. Hier und künftig, in einer nicht nur finanzkapitalistisch enorm veränderten Zeit, wird der 72-jährige neue Bundespräsident offenkundig Berater und in der Sache kenntnisreichere Redenschreiber brauchen, um sein rhetorisches Talent, seine Eloquenz auch argumentativ zu unterfüttern und zur Macht des richtigen Worts zu erheben.

Liest man in Gaucks Reden und Interviews jetzt noch einmal über seine kleine „Freiheit“ hinaus, dann findet sich Vernünftiges, Sympathisches, Couragiertes zuhauf. Aber eben auch, was einen kopfschütteln macht. So hat er im Januar dem Drogerie-Magazin „alverde“ gesagt, dass die Aufregung, wenn „eine Ölfirma eine Ölplattform im Meer versenkte“, ihm „zu hysterisch war“, weil „die Tiere im Wasser sehr gut mit diesem Teil leben konnten“. Solche Sätze, ohne Feingefühl für Ökologie und Ökonomie, zeigen, dass es zwischen der Freiheit (der Meinung) und der Verantwortung (als Präsident) demnächst wohl noch eine Brücke zu schlagen gilt.

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