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Politik: Weizsäcker hat das Papier der Kommission vorgelegt - aber Scharping will sich nicht daran halten

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker sagt es diplomatisch, aber deutlich: "Wir können nicht anders, als alle Beteiligten darum zu bitten, eine wirklich gründliche Diskussion zu führen und sich nicht mit den üblichen Schnellschüssen zu begnügen." Jeder weiß, wen der Vorsitzende der Wehrstruktur-Kommission meint.

Von Robert Birnbaum

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker sagt es diplomatisch, aber deutlich: "Wir können nicht anders, als alle Beteiligten darum zu bitten, eine wirklich gründliche Diskussion zu führen und sich nicht mit den üblichen Schnellschüssen zu begnügen." Jeder weiß, wen der Vorsitzende der Wehrstruktur-Kommission meint. Am Dienstag früh übergibt von Weizsäcker den gut 150 Seiten starken Bericht dem Kanzler und dem Verteidigungsminister. Rudolf Scharping hat das Papier kaum in Händen, da erklärt er es zur Makulatur: Die Bundeswehr werde um 100 000 Mann - Zivilbeschäftigte und Soldaten - schrumpfen. Details am Mittwoch, in vier Wochen Kabinettsbeschluss. Punktum.

So hatten sich die 21 Kommissionsmitglieder das nicht vorgestellt. Tatsächlich hatte Scharping ja auch einen anderen Ablauf im Auge, als er das Gremium berief: Bericht im Herbst, dann längere Debatte, dann Reform. Doch seit Hans Eichel den Rotstift schwingt, ist der Wehrminister in Zeitnot. Seit sich in der Kommission ein Modell herausschälte, das Scharpings Plänen zuwiderläuft, begann er die Zeitnot zu schätzen.

Auch wenn Weizsäcker jetzt mahnte, die Debatte nicht auf die Wehrpflicht-Frage zu verengen - faktisch ist das der Dreh- und Angelpunkt. Frühzeitig hatte Scharping hier seinen Pflock eingeschlagen: Die Wehrpflicht bleibt. Direkt Einfluss genommen auf die Kommission hat er nicht; aber Mitglieder berichten, der Minister habe stets versucht, die ins Auge gefassten Mannschaftsstärken "hochzupredigen". Das misslang. So hat die Arbeit der Kommission indirekt schon Wirkung gezeigt: Das Gegen-Reformpapier des Generalinspekteurs von Kirchbach, das Scharping am Dienstag ebenfalls entgegennahm und das eine 290 000 Mann starke Bundeswehr vorsieht, ist ebenfalls schon jetzt Makulatur. 280 000 Soldaten sollen es nach Scharpings Willen werden.

Aber so schnell will die Kommission ihr Konzept nicht zu den Akten wandern sehen. Bis zuletzt hatte sie darüber diskutiert, ob angesichts der veränderten Weltlage, der knappen Kassen und der neuen Anforderungen an Krisenreaktionsfähigkeit und Auslandseinsätze nicht eine Freiwilligen- und Berufsarmee bei Aussetzung - nicht Abschaffung - der Wehrpflicht richtiger wäre. Doch setzten sich jene durch, die zu Vorsicht mahnten. Niemand könne heute sagen, dass Deutschland nie mehr Soldaten zur Verteidigung brauche, sagt Weizsäcker. Die Gefahr sei aber zu groß, dass in einer Spannungslage die Wiedereinführung der Wehrpflicht zur Eskalation führen würde.

So kam die Kommission zur "Auswahlwehrpflicht": 30 000 Rekruten, bei Bedarf auch mehr, für je zehn Monate einberufen. Den Einwand, das habe - bei Jahrgangsstärken von etwa 400 000 jungen Männern - nichts mit Wehrgerechtigkeit zu tun, lässt die Mehrheit der Experten nicht gelten. Gerechtigkeit, sagt Kommissionmitglied Christoph Bertram, sei keine Frage der Zahlen. Die Bundeswehr brauche nicht mehr als diese 30 000 Mann - wäre es nicht ungerechter, über Bedarf einzuberufen? Und der General a.D. Peter-Heinrich Carstens ergänzte: Entscheidend sei der Auftrag der Bundeswehr. Wer bei engen Finanzrahmen aber mehr Wehrpflichtige einberufe als er brauche, verursache unsinnige Kosten und "schmälert die Bündnis- und Europafähigkeit" Deutschlands. Nicht "Symbolhöhe" sei entscheidend, sondern der Bedarf, sagt auch Weizsäcker. Damit jeder versteht, dass die Kommission mit ihrem Auftraggeber unzufrieden ist, legt Bertram nach: Der Bericht sei "eine Messlatte" für alle anderen Konzepte. Wer davon abweichen wolle, "wird sich rechtfertigen müssen".

Die Grünen sehen das genauso. Aber die kleine Regierungspartei steht damit allein. Und Scharping denkt gar nicht daran, sich zu rechtfertigen, sondern drückt aufs Tempo. Seine Begründung, die Entscheidung müsse aus Haushaltsgründen rasch fallen, findet der Grünen-Verteidigungspolitiker Winnie Nachtwei freilich unplausibel: Man könne am 21. Juni im Kabinett das entscheiden, was für den Etat 2000 bedeutsam sei, und sich dann Zeit zum Nachdenken lassen. Das genau wollen die SPD-Oberen nicht; da kann selbst ein von Weizsäcker noch so sehr gründliche Debatte anmahnen. Die Grünen sehen es in ohnmächtigem Zorn. "Man kann auch jeden Tag zwölf Stunden diskutieren", spottet die Wehrexpertin Beer, "schafft man es in vier Wochen."

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