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Politik: Wen sollen wir denn fragen?

Wie Jugendliche versuchen, das nicht zu vergessen, was sie nie kennen gelernt haben

Wir laufen mit der Coke von McDonald’s zur nächsten H&M-Filiale, überqueren den Breitscheidplatz und überlegen, wer dieser Breitscheid gleich war. Wir kommen aus dem U-Bahnhof Wittenbergplatz, um im Telekom-Shop ein Handy zu kaufen, und sehen ein Schild, auf dem zwölf „Orte des Schreckens“ aufgeführt sind, „die wir nie vergessen dürfen“.

Breitscheid war einmal Reichstagsabgeordneter der SPD und Gegner des Nationalsozialismus. Und von den Konzentrationslagern, die auf der Gedenktafel am Wittenbergplatz stehen, hat man im Unterricht in der Schule immer wieder gehört. Jugendliche kennen noch viel mehr Fakten und Namen und Daten der deutschen Vergangenheit – aus Büchern. Bücher, die sie zwar lesen, die ihnen aber doch nicht erklären können, was damals los war. In jenem Deutschland, in dem auch sie geboren wurden, und das nun verlangt, dass sie am 8. Mai gedenken.

Sechzig Jahre. Kriegsende. Frieden. Befreiung. Nur, fragt man Jugendliche, was sie mit diesem Tag verbinden, so lautet die Antwort, dass man aufstehen werde, um gegen die Neonazis zu demonstrieren, die durch die Stadt marschieren wollen. Aber ein Feiertag? Ein Trauertag? Ein Gedenktag an 1945? Wären die Nazis nicht auf der Straße, wäre der 8. Mai 2005 nicht viel bedeutender als die Französische Revolution. Kennt man halt.

Es wird viel von einer Generation verlangt, die unglaublich mobil und interaktiv in der Welt unterwegs ist, und immer seltener die Chance hat, mit Zeitzeugen über den Krieg zu reden. Die Generation der in den 80er Jahren oder noch später Geborenen schleppt im Urlaub einen Riesenberg Geschichte herum und kann nur wenig erzählen. Während die Eltern noch ihre Großeltern fragen konnten, müssen Jugendliche heute feststellen, dass nicht nur die Zahl der Opfer, die damals überleben konnten, schwindet, sondern auch die der Schweiger, Mitläufer und Täter. Wer seinen Großvater fragt, lernt, dass sogar er damals zu jung war für die Hitlerjugend. Und wer macht seinem Opa schon Vorwürfe, dass er als Kind nicht rebelliert hat.

Die Geschichte wird in großem Rahmen abgehandelt in den Schulen, vielleicht mehr als je zuvor. Tagebücher werden im Unterricht vorgelesen oder Dokumentarfilme gezeigt. Das ist löblich und wirkt dennoch hilflos, weil die Schüler bedrückt sind, aber keine Nachfragen stellen können. Im schlimmsten Fall entstehen so irgendwann Legenden. „Sie werden von Generation zu Generation weitergegeben und jedes Mal ein wenig mehr verfälscht“, schreibt ein Student über den 8. Mai. „Legenden können etwas Schönes und Abenteuerliches sein – doch sollten jene zwölf Jahre nie zur Legende werden, sondern stets so real vor Augen sein, dass man sie um keinen Preis noch einmal erleben möchte.“

Nun sind die Jugendlichen Nachfahren von Menschen, die ein unvorstellbares Verbrechen begangen haben. Sie sind keine Täter, das behauptet auch niemand ernsthaft. Sie würden es jedoch werden, wenn sie Geschichte irgendwann verharmlosen oder Gleiches billigen. „Wir sollten so lange zuhören, wie wir dazu Gelegenheit haben“, schreibt ein Student. „So gerne wir auch die Verantwortung von uns schieben und – zu Recht – behaupten, dass unsere Generation nicht an den Verbrechen der Nazis schuld ist, liegt es dennoch in unserer Verantwortung, das uns Erzählte zu dokumentieren und zu archivieren.“ Die Aufgabe endet nie. Aber Daten werden verblassen, und Tage. Der 8. Mai ist so ein Tag.

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