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Politik: Wenn der Bürger bockig wird

ENDE DER REFORMEN?

Von Tissy Bruns

Seit Jahresbeginn ist der Bundeskanzler damit beschäftigt, alle möglichen Vorhaben einzukassieren. Ob es sich um die EUDiätenordnung handelt oder höhere Führerscheingebühren, die Begründung ist immer die gleiche: derzeit nicht vermittelbar. Jetzt ist er richtig laut geworden. Dieses Basta, das zu den Pflegeplänen der Gesundheitsministerin, wird als Basta gegen die Fortsetzung des Reformkurses verstanden, als Richtungswechsel und als Feigheit vor dem Wähler.

Die Wahrnehmung stimmt, denn der Kanzler hat wirklich mehr gemeint als den 2,50 Euro höheren Pflegebeitrag. Und sie entbehrt nicht einer gewissen Komik. Denn Ulla Schmidts Pflegevorschläge verdienen den Namen Reform so wenig wie höhere Führerscheingebühren. Sie sind bloß Ausdruck der schlechten Angewohnheit, irgendwie Geld in die Kassen zu treiben, und sei es unter dem Vorwand eines Verfassungsgerichtsurteils. Angesichts der demografischen Probleme wäre es ein schwerer Sündenfall, Eltern im Sozialsystem einfach zu Nichterziehenden zu erklären, sobald die Kinder aus dem Haus sind.

Aber solche systematischen Fragen werden den Bundeskanzler nicht beschäftigt haben. Sein politischer Instinkt hat ihm gesagt, dass für die Leute irgendwie eine Grenze erreicht ist, und erst recht für seine Stammwähler. Gerhard Schröder, der SPD-Vorsitzende, hat viele Gründe, angesichts der 14 Wahlen in diesem Jahr auf die Bremse zu treten. Erstens hat das die Union, der Hauptkonkurrent bei den Wählern, vorsorglich auch schon gemacht, als sie mit den Steuerplänen ihren Reformeifer fürs Erste zu den Akten gelegt hat. Zweitens sind da die Umfragen. Und drittens die wöchentlichen Berichte der Abgeordneten, die in ihren Wahlkreisen nichts als Klagen hören, Klagen über Rentenkürzungen, Zehn-Euro-Scheine und Zuzahlungen.

Für das Jahr 2004 muss sich niemand etwas vormachen: Das Reformtempo des vergangenen Jahres wird sich nicht wiederholen. Alle Erfahrungen mit dem handwerklichen Geschick dieser Regierung sagen, dass ihre Kräfte schon mit dem Thema Rentenreform überstrapaziert sein werden. Über das zurzeit zwar niemand spricht, das aber unausweichlich auf der Tagesordnung steht. Deshalb gilt eben auch: Wer das Kanzler-Basta als Kurswechsel weg von den Reformen, weg von der Agenda 2010 versteht, überschätzt dessen Möglichkeiten beträchtlich. Nicht nur bei der Rente geht der Reformprozess weiter. Die Einschnitte in das Gesundheitswesen, die Veränderungen bei Kündigungsschutz, Arbeitslosen- und Sozialhilfe entfalten ihre praktische Wirkung auf die Bürger erst in diesem Jahr, auch wenn sie bereits bis zur Übermüdung diskutiert worden sind.

Und es ist unverkennbar: Die Bürger sind alles andere als erfreut. Ob ihr Ärger dabei mehr dem schlechten Handwerk oder der Substanz der Reformen gilt, das ist ein müßiger Streit. Die Erfahrungen, die unsere Nachbarn bei vergleichbaren Reformen gemacht haben, lehren unerbittlich: In Demokratien lassen sich die Wähler nicht ungestraft wegnehmen, was ihnen einmal zugestanden wurde – erst recht nicht die traditionellen Wähler von Sozialdemokraten. Von begrenztem Wert sind auch die Betrachtungen über die Feigheit des Politikers vor dem Wähler. Denn der demokratische Opportunismus hat immer eine legitime Kehrseite. Er fragt nämlich nach der Akzeptanz politischer Maßnahmen in der Bevölkerung.

Diese Akzeptanz aber ist ein realer und gewichtiger Faktor für den weiteren Verlauf der Strukturveränderung in Deutschland. Der aktuelle Befund sagt eindeutig, dass die Bürger nicht mitspielen. Sie verweigern sich folgenreich, mit ihrer eigenen Macht als Nichtkonsumenten. Dieses Misstrauen kennt viele Urheber: hochmütige Manager vor Gericht. Arbeitgeberverbände, die auf Gesichtsverlust der Arbeitnehmer zielen. Oppositionspolitiker, denen keiner glaubt, dass sie es besser machen. Eine Bundesregierung, die den eigenen Leuten im Schlingerkurs in die Taschen greift. Ein Hochstapler, wer da behauptet, den Stein der Weisen in der Hand zu halten. In diesem Jahr müssen die Leute auch durchatmen dürfen. Die Konsequenz aus dem fragwürdigen Zickzack der Regierung kann jedenfalls nicht sein: Zack, zack, hier kommt die nächste Reform, und ganz bestimmt tut sie euch weh.

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