zum Hauptinhalt

Politik: Wenn der Wert steigt

Von Moritz Schuller

Gerhard Schröder ist gescheitert, weil er die Deutungshoheit über die Gegenwart verloren hat: Er konnte sein politisches Werk und Wirken nicht mehr glaubwürdig erklären. Und so fällt diese Aufgabe, den Deutschen die Gegenwart zu vermitteln, der nächsten Regierung zu.

Dass vermutlich gerade den Konservativen eine solche Sinnproduktion abverlangt werden könnte, ist bemerkenswert. Die Union hat keines der großen gesellschaftspolitischen Themen der vergangenen Jahrzehnte, von der Wiedervereinigung abgesehen, erfolgreich besetzen können – oder wollen. Seit Heiner Geißlers „Neuer sozialer Frage“ wurde vielleicht noch die „Leitkultur“ in die Diskussion gebracht, und das eher halbherzig. Selbst Themen wie Gentechnik oder Religionsunterricht spielen für die christlichen Parteien keine identitätsstiftende Rolle. „Politik als angewandte Moral“ liegt der politischen Rechten nicht, sagt der Historiker Paul Nolte, sie war schon immer weniger ideologisch und weniger idealistisch als die Linke.

Den Philosophen Leo Strauss, der die Neokonservativen um George W. Bush intellektuell geprägt hat, halten die meisten in der Union vermutlich für einen weiteren Sohn von Franz Josef. Auch Tony Blair, der lange bevor er an die Macht kam, den Begriff „New Labour“ politisch etabliert und den sozialistischen Ballast abgeworfen hatte, diente den deutschen Konservativen nicht als Modell: Für eine „Neue Union“ ist es nun zu spät. Die Schwarzen haben es versäumt, sich rechtzeitig einen zukunftsweisenden ideologischen Überbau zu geben, der Antworten auf die Herausforderung der Globalisierung liefern könnte. Auch das ein Ergebnis der stetigen Entintellektualisierung der Partei unter ihrem Vorsitzenden Helmut Kohl.

Es wird nun nicht um dessen „geistig-moralische Wende“ gehen, um Werte und individuelle Moral, mit der die Union punkten könnte; der Kanzler hat sich schließlich die Cohibas nicht von einer Lewinsky anstecken lassen. Doch eine „geizig-ökonomische Wende“ allein würde die Kanzlerschaft Merkel zu einer Episode zusammenschnurren lassen. Schröder konnte noch mit dem Versprechen antreten, die Arbeitslosigkeit zu senken, seitdem ist die Herausforderung gewachsen: Inzwischen geht es darum, die Moral eines ganzen Landes zu heben.

Mehr als bei den vergangenen Wahlen ist diesmal Orientierungshilfe gefragt. Die Ungeduld mit Schröders Sprunghaftigkeit ist dafür ein Indikator, vielleicht sogar das erstaunliche Interesse am Weltbild eines erzkonservativen Papstes oder die europäische Endzeitstimmung nach den verlorenen Verfassungsreferenden. Wie können wir in Deutschland die Zukunft meistern? Woher soll neue Arbeit kommen? Was können wir eigentlich überhaupt noch? Die Grundlagen gesellschaftlichen Lebens sind heute dramatisch in Frage gestellt.

Ob die Union mit ihren traditionellen, in sich widersprüchlichen Denkinstrumenten – Soziallehre, Ordoliberalismus und Nationalkonservatismus – etwa auf das Unbehagen am Kapitalismus oder über das Verschwinden nationaler Identitäten neue Antworten finden wird, ist offen. Merkels eigener Versuch, diese Trias durch eine „Neue Soziale Marktwirtschaft“ in einen zeitgemäßen intellektuellen Zusammenhang zu stellen, geht bisher der unbedingte Erneuerungswille ab. Verlässliche, handwerklich saubere Politik allein, so sehnsüchtig sie erwartet wird, würde das Gefühl dieser existenziellen ökonomischen Verunsicherung nicht beenden. Dazu ist vielmehr ein intellektuelles Angebot notwendig, das nicht nur von Geld redet, sondern von Staat und Markt, und das über Freiheit und Verantwortung und Identität nicht schweigt.

Sollte Merkel gewählt werden, dann nicht, weil von ihr eine Wende zum Wertkonservativismus erwartet würde. Sondern weil die begonnene gesellschaftspolitische Revolution politisch und intellektuell ins Stocken geraten ist. Von ihr würde also nicht weniger erwartet als die Deutung des eigenen Lebens in der globalisierten Welt.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false