zum Hauptinhalt

Politik: Wer ist das Volk?

Tausende demonstrieren in Minsk – aber der Rückhalt der weißrussischen Opposition bleibt begrenzt

Schreie, Trillerpfeifen und Menschen, die sich, ineinander verknäuelt, am Boden wälzen. Einer der Demonstranten stolpert mit blutendem Hinterkopf davon. Mit Gummiknüppeln, Handschellen und Tränengas ausgestattet, haben Spezialeinheiten von Polizei und Geheimdiensten in der weißrussischen Hauptstadt Minsk am Samstagabend eine weitere Kundgebung der Opposition aufgelöst, deren Teilnehmer gegen massive Fälschungen der Ergebnisse bei den Präsidentenwahlen am letzten Sonntag protestierten.

Rund 10 000 Menschen waren den Aufrufen zweier unterlegener Kandidaten – Alexander Milinkewitsch und Alexander Kosulin – gefolgt. Das waren erheblich mehr als bei den Massenprotesten zu Beginn der Woche, als das vorläufige Wahlergebnis bekannt wurde. Am Samstagmittag hatten Regimegegner zunächst versucht, sich erneut im Zentrum von Minsk zu versammeln – auf dem Oktober-Platz, wo die Polizei in der Nacht zum Freitag das Zeltlager der Regimegegner gewaltsam aufgelöst und über 300 Menschen verhaftet hatte. Den Ordnungskräften gelang es zwar, den Oktober-Platz hermetisch abzuriegeln, der momentan für die Feierlichkeiten zur Amtseinführung des umstrittenen weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko am 31. März hergerichtet wird. Die Mehrheit der Demonstranten versammelte sich jedoch wenig später in einem Park am Denkmal von Nationaldichter Janka Kupala, wo der Oppositionspolitiker Kosulin zum Sturm des Untersuchungsgefängnisses am Stadtrand aufrief. Dort sitzen weiterhin zahlreiche Demonstranten in Haft, die in der Nacht zum Freitag festgenommen worden waren. Kosulins Aufruf ging eine heftige Kontroverse mit Oppositionsführer Milinkewitsch voraus, der zu Besonnenheit mahnte.

Kosulin, Ex-Boxer und später Rektor der Staatsuniversität, folgten denn auch nur knapp 900 Menschen. 50 Meter vor dem Ziel wurde die Kolonne von der Polizei gestoppt. Bei dem anschließenden Handgemenge wurden nach offizieller Darstellung acht Polizisten und ein Demonstrant verletzt. Die Opposition sprach hingegen von mindestens drei Verletzten in den eigenen Reihen und Dutzenden Verhafteten. Unter ihnen befanden sich auch der Oppositionspolitiker Kosulin und etwa 20 ausländische Journalisten: Russen, Ukrainer und Georgier. Die halbamtliche russische Nachrichtenagentur Itar-Tass dagegen meldete, die Masse habe einen Reporter des weißrussischen Staatsfernsehens verprügelt, mit Füßen getreten und dessen Kamera zertrümmert.

Weißrusslands Innenminister Wladimir Naumow sagte am Abend, die „Macht“ habe „adäquat auf die Randale der Opposition reagiert“. Kosulin habe „zum gewaltsamen Umsturz und zur physischen Vernichtung des Staatsoberhauptes aufgerufen“.

Wie es in Weißrussland weitergeht, ist offen. Von neuen Sanktionen des Westens bedroht, dürfte Präsident Lukaschenko zwar alles tun, um Blutvergießen zu vermeiden. Forderungen der Opposition nach Verhandlungen oder gar nach Neuwahlen dürfte er jedoch nicht erfüllen – in der Hoffnung, der Protest werde sich irgendwann totlaufen.

Bisher gelang es der zerstrittenen Opposition nicht, landesweite Strukturen aufzubauen und ein schlüssiges Regierungsprogramm zu formulieren. Auch ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung momentan eher begrenzt. Zwar sprechen auch westliche Beobachter von massiven Behinderungen oppositioneller Kandidaten im Wahlkampf und gefälschten Abstimmungsergebnissen. Doch selbst in unabhängigen Nachwahlbefragungen war der bestplatzierte Oppositionskandidat Alexander Milinkewitsch nur auf gut 25 Prozent gekommen. Lukaschenko hatte hingegen die absolute Mehrheit verbuchen können, wenn auch nur knapp. Milinkewitsch zeigte sich bei der Kundgebung am Samstag dennoch zuversichtlich: „Wir können stolz sein auf das, was wir bereits getan haben: Die Angst ist besiegt“, sagte er. Wären Hunderttausende auf die Straße gegangen, „würden die Behörden aus dem Land flüchten“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false