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Türkei-Wahl: Wer ist Recep Tayyip Erdogan?

Die Türkei ist eine boomende Industrienation. Das verdankt sie dem starken Mann vom Bosporus. Heute wird in dem Land gewählt. Und seine Partei steht vor einem neuen Triumph.

Er hat sein Land verändert wie kaum ein Politiker vor ihm. Heute stellt sich der 57-Jährige seiner letzten Parlamentswahl in der Türkei, die er allen Voraussagen nach auch gewinnen wird. Doch die politische Karriere des Recep Tayyip Erdogan dürfte auch damit noch nicht beendet sein.

WIE PRÄSENTIERTE SICH ERDOGAN IM WAHLKAMPF?

Die Menge jubelt, der Einpeitscher auf dem Dach des Wahlkampfbusses schreit ins Mikrofon: „Jetzt kommt der große Meister.“ Zehntausend Menschen drängen sich auf dem Marktplatz der nordwesttürkischen Stadt Lüleburgaz vor der Absperrung rund um den Bus mit dem Emblem und den Wahlkampfparolen von Erdogans Regierungspartei AKP. Etliche warten seit Stunden, wie auf einen Heilsbringer.

Recep Tayyip Erdogan ist sichtlich gealtert. Seine Schultern sind eingefallen, seine Bewegungen sind bedächtig, mehrmals unterbrechen Hustenanfälle seine Wahlkampfrede. Dem Mann, der die Türkei stärker verändert hat als alle Ministerpräsidenten seit dreißig Jahren und der von seinen Anhängern schon mit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verglichen wird, ist der Stress des Wahlkampfes anzusehen.

Es wird sein letzter sein, hat Erdogan angekündigt. Seine Gegner sagen, in ein paar Jahren wolle Erdogan dann Staatspräsident werden. Jetzt geht es erst einmal um die Parlamentsmehrheit. Erdogans islamisch verwurzelte AKP liegt in den Umfragen zwischen 45 und 50 Prozent und damit weit vor allen anderen Parteien.

Als eine Gruppe vor dem Bus in Lüleburgaz den Sprechchor „Sultan Erdogan“ anstimmt, widerspricht der „große Meister“ demütig. Nein, ein osmanischer Sultan sei er nicht. „Wir sind nicht an der Regierung, um zu herrschen, sondern um zu dienen“, sagt er. Dann verweist er auf die 13 000 Kilometer vierspuriger Überlandstraßen, die unter seiner Regierung gebaut worden seien, und rattert noch andere Errungenschaften herunter.

Diese Erfolge werden selbst von seinen Gegnern anerkannt. Die parteiübergreifende Popularität des „großen Meisters“ ist ein Hindernis für die Opposition, das unüberwindlich erscheint. Selbst Anhänger der Säkularisten-Partei CHP in Lüleburgaz zollen dem Ministerpräsidenten Respekt. „Er ist klug und fleißig“, sagt Demet Gülveren, eine 32-jährige CHP-Wählerin. Erdogan steht für den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei in den vergangenen Jahren.

WAS FÜR EIN MENSCH IST ERDOGAN?

Der türkische Ministerpräsident stammt aus kleinen Verhältnissen und wuchs im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa auf, das den Ruf eines Proletenbezirks hat. Hier verkaufte Erdogan als Teenager Sesamkringel auf der Straße und wurde von seinem Vater sehr streng erzogen. Dem „Wall Street Journal“ erzählte er, sein Vater habe ihn einmal mit einer drastischen Methode für ein Schimpfwort bestraft: Er hängte den kleinen Tayyip an den Füßen auf. Offenbar um den guten Ruf seines Vaters besorgt, setzte Erdogan hinzu: „Sag’ nicht ‚er hängte mich auf‘, sag’, dass er damit drohte.“

Schon als Schüler war Erdogan als besonders fromm bekannt und brachte seinen Mitschülern bei, wie man sich beim Beten in der Moschee zu verhalten hat. Nach dem Militärputsch von 1980 gab er seinen Job bei den Istanbuler Verkehrsbetrieben auf, weil der als Chef des Unternehmens eingesetzte Offizier allen Mitarbeitern befahl, nur noch glatt rasiert zur Arbeit zu erscheinen – Gesichtsbehaarung gilt den Militärs noch heute als Zeichen kulturloser Islamisten. Als Istanbuler Oberbürgermeister von 1994 bis 1998 machte Erdogan als islamistischer Heißsporn von sich reden. Allerdings erwarb er sich als effizienter Manager der Millionenmetropole zugleich viel Respekt.

Die entscheidende Wende in Erdogans persönlichen Überzeugungen kam während seiner Zeit im Gefängnis nach einer politisch motivierten Verurteilung 1998. In dieser Zeit setzte sich bei ihm die Überzeugung durch, dass der strikt islamistische Kurs seines Mentors Necmettin Erbakan in eine Sackgasse führte und dass er durch einen pragmatischen, weltoffenen und demokratischen Weg ersetzt werden müsse. Zusammen mit einigen Weggenossen wie dem heutigen Staatspräsidenten Abdullah Gül löste sich Erdogan von den islamistischen Traditionalisten und gründete 2001 die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung. Ein Jahr später gewann die AKP ihre erste Parlamentswahl.

WOFÜR STEHEN ERDOGAN UND DIE AKP?

Erdogans AKP ist die politische Vertretung des religiös-konservativen Kleinbürgertums in der anatolischen Provinz, das den Machtanspruch der säkularistischen Eliten von Bürokratie, Justiz und Militär in den Städten in den vergangenen Jahren immer mehr infrage stellten. Die Säkularisten reagierten mit dem Vorwurf, Erdogan wolle aus der Türkei einen Scharia-Staat machen – doch in Wirklichkeit ging es um die Macht im Land. Erst vor kurzem beschrieb Mehmet Ali Birand, ein prominenter Journalist und Vertreter des säkularistischen Lagers, diese Haltung im kritischen Rückblick so: „Wir wollten das politische System und die Wirtschaft für uns alleine behalten.“

Stück für Stück brach Erdogan die Monopolstellung der Säkularisten auf. Besonders zu Beginn ihrer Zeit an der Macht verband die AKP eine konservative Grundausrichtung mit schwäbisch anmutendem Fleiß. Ankara verabschiedete ein Reformpaket nach dem anderen, wurde 2005 mit dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen belohnt. Viele Intellektuelle und andere aus dem nichtreligiösen Reformlager unterstützten Erdogan kräftig. Zugleich stieg das Land wirtschaftlich auf. Heute ist die Türkei Mitglied der G 20 und die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa.

Diese Erfolge machten den innenpolitischen Umbruch möglich. Zwei Ereignisse markierten die Gewichtsverschiebung zugunsten der Anatolier. Im Frühjahr 2007 drohten die früher allmächtigen Militärs als Anführer der Säkularisten mit einem Putsch gegen Erdogan – und wurden von den Wählern abgestraft, die der AKP mit fast 47 Prozent das Vertrauen gaben. Seitdem geht es für die Generäle politisch steil bergab. Die zivile Staatsanwaltschaft untersucht mutmaßliche Putschpläne von Offizieren und ließ fast 200 Militärangehörige in Untersuchungshaft stecken.

Das zweite Ereignis war das Verfassungsreferendum 2010. Fast 60 Prozent der Türken stimmten für die Veränderungen, die unter anderem die Vormachtstellung der Säkularisten in der Justiz beendeten. Wie sehr sich das gesellschaftliche Klima gewandelt hatte, zeigte sich im Herbst: Das heftig umstrittene Kopftuchverbot an türkischen Unis wurde fast lautlos aufgehoben.

WARUM IST ERDOGAN TROTZ ALLER ERFOLGE SO UMSTRITTEN?

In dem Maße, wie seine innen- und außenpolitischen Erfolge wuchsen und die Opposition an Kraft verlor, zeigte Erdogans Regierungsstil immer stärker autoritäre Züge. Anfang des Jahres äußerte er sich ungnädig über ein Denkmal im Osten des Landes – prompt wurde das Monument abgerissen. Schon zuvor hatte er Prozesse gegen Zeitungskarikaturisten angestrengt, weil er nicht als Katze gezeichnet werden wollte.

Nicht nur Erdogans Dünnhäutigkeit und Selbstherrlichkeit halten bei Säkularisten das Misstrauen gegenüber dem Regierungschef wach. Schon häufiger – besonders nach strahlenden Wahlerfolgen – versprach der raubeinige Ministerpräsident seinen Landsleuten, er werde mehr auf seine Kritiker zugehen. Ebenso regelmäßig bügelte Erdogan dann aber mithilfe der starken AKP-Mehrheit im Parlament die Einsprüche der Opposition ab. Aber auch die Opposition verschloss sich in vielen Fällen von vornherein jedem Gespräch mit der Regierung.

WELCHE ZIELE VERFOLGT ERDOGAN NACH DER WAHL?

Alle Parteien sind sich einig, dass die Türkei eine neue, demokratischere Verfassung braucht. Denn als EU-Bewerberland und aufsteigende Regionalmacht schleppt sie immer noch eine von den Militärs 1982 verordnete Verfassung mit sich herum.

Im Wahlkampf warb Erdogan nicht nur für eine erneute Parlamentsmehrheit der AKP – er forderte die Zweidrittelmehrheit. Denn mit dieser könnte die AKP nach der Wahl die neue Verfassung im Alleingang beschließen. Er werde aber auf jeden Fall eine Einigung mit den anderen Parteien anstreben, ließ Erdogan das Land wissen. Ob er sich nach dem Wahltag daran erinnert, ist aber unsicher. Kritiker vermuten, dass er aus der parlamentarischen Demokratie der Türkei ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild machen will, um sich in einigen Jahren als Staatschef an die Spitze dieses neuen Staates wählen zu lassen.

Der Ministerpräsident selbst sagt zu seinen eigenen Zukunftsplänen nichts. Doch er hat bereits mehrfach erklärt, dass ein Präsidialsystem seiner Meinung nach eine angemessene Staatsform für die Türkei wäre.

GEBOREN

Recep Tayyip Erdogan wird am 26. Februar 1954 in Istanbul geboren.

BERUF
Nach der Grundschule besucht Erdogan eine sogenannte Imam- Hatip-Schule, eine weiterführende Schule, die eigentlich der Ausbildung des theologischen Nachwuchses dient. Er studiert Betriebswirtschaft und arbeitet später bei den Istanbuler Verkehrsbetrieben IETT. Als talentierter Fußballer denkt er über eine Profikarriere nach, entscheidet sich dann aber für die Politik. Das Stadion in seinem Istanbuler Heimatviertel Kasimpasa ist nach ihm benannt.

FAMILIE

Seit Juli 1978 ist Erdogan mit Emine Erdogan, geborene Gülbaran, verheiratet. Das Paar hat je zwei Söhne und Töchter: Ahmet Burak und Necmeddin Bilal sowie Esra und Sümeyye. Inzwischen ist Erdogan dreifacher Großvater.

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