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Politik: Wer kann, zieht weg

In nur zehn Jahren hat sich die Zahl der Problemviertel in Frankreich mehr als verdoppelt / Neue Krawalle

Zerstörte Fensterscheiben, Graffiti, der Aufzug funktioniert nicht – dieses Bild bieten die Hochhäuser im Pariser Vorort Sarcelles vielerorts. Ganz anders vor 25 Jahren: Damals war das im Norden der französischen Hauptstadt gelegene Viertel ein typischer Mittelschichtbezirk, von sozialem Elend gab es nur wenige Spuren. Ähnliches gilt auch für Aulnay-sous-Bois im Norden oder Clichy-sous-Bois im Nordosten von Paris: Wer konnte, ist hier in den letzten zwei Jahrzehnten meistens weggezogen, dafür kamen Einwanderer aus dem Maghreb und aus Schwarzafrika. Seit Jahren verschärft sich die Ghettobildung in Frankreich. Nach Angaben des Innenministeriums hat sich die Zahl der so genannten „quartiers sensibles“, also der Problembezirke, in den letzten zehn Jahren in Frankreich mehr als verdoppelt.

In diesen Tagen erlangen die französischen Vororte eine traurige Berühmtheit, seit hier Nacht für Nacht jugendliche Einwanderkinder auf die Straßen gehen. Inzwischen hat sich die Taktik der Krawall-Trupps, die ihrem Frust freien Lauf lassen, geändert. Die Jugendlichen suchen jetzt seltener die direkten Auseinandersetzungen mit der Polizei, sondern verlegen sich auf Brandstiftungen im Schutz der Dunkelheit. In Sarcelles feuerten sie in der Nacht zum Samstag mehrere Schüsse auf einen Bus, der bereits zerstört war.

Die Ausschreitungen erreichten in der Nacht zum Samstag einen neuen Höhepunkt. Besonders schockiert sind die Einwohner der betroffenen Stadtviertel, weil die Randalierer immer rücksichtsloser vorgehen. In Pierrefitte-sur-Seine in dem seit über einer Woche heimgesuchten Département Seine-Saint-Denis bei Paris mussten mehr als 100 Hausbewohner evakuiert werden, weil in einer Tiefgarage ein Feuer gelegt worden war. Die Bilanz der neunten Krawallnacht: 900 in Brand gesteckte Fahrzeuge, mehr als 250 Festnahmen. Wieder konzentrierten sich die Unruhen auf den Großraum Paris; aber auch in den Städten Lille, Toulouse, Bordeaux, Rennes und Rouen gab es Ausschreitungen.

Premierminister Dominique de Villepin bemühte sich weiter um eine Entschärfung der Lage. Dass die Krawalle in den Vorstädten für Frankreichs Regierung derzeit das wichtigste Thema sind, lässt sich schon an de Villepins Terminkalender ablesen: Am Freitagabend nahm er sich Zeit für ein Gespräch mit jungen Leuten im Alter zwischen 18 und 25 Jahren. Sie alle kommen aus den Problemvierteln – Arbeitslose, Billigjobber, aber auch Studenten der angesehenen Pariser Hochschule Science-Po. Am Samstag folgte dann eine Krisensitzung mit mehreren Ministern und dann ein Treffen mit dem Vorsitzenden des französischen Moslemrates, Dalil Boubakeur. Als Boubakeur am Samstagnachmittag de Villepins Amtssitz wieder verließ, erklärte er, dass er von der Regierung „Worte des Friedens“ zur Beruhigung der Lage erwarte.

Das war eine mehr oder minder unverblümte Aufforderung an Innenminister Nicolas Sarkozy, seine umstrittenen Äußerungen nicht zu wiederholen. Sarkozy hatte gewalttätige Jugendliche als „Abschaum“ bezeichnet und angekündigt, die Problembezirke „au Kärcher“ zu behandeln, also mit einem Hochdruckreiniger. Mit diesen Äußerungen hat Sarkozy nicht nur die Opposition, vor allem die Sozialisten, und selbst Mitglieder der eigenen Regierung gegen sich aufgebracht. Seine Worte haben auch zur Folge, dass „Sarko“ vielen randalierenden Jugendlichen in den Vorstädten inzwischen als willkommenes Feindbild dient.

Während in den Vororten die Steine fliegen, dabattiert Frankreichs Politik unterdessen über die Wiedereinführung der von Sarkozy abgeschafften Nachbarschaftspolizei. Nach Ansicht der Sozialisten haben sich die Zustände in den „quartiers sensibles“ vor allem verschlimmert, seit die Polizisten hier nicht mehr als Vermittler auftreten. Auch der Sprecher der Polizeigewerkschaft UNSA, Francis Masanet, verlangte eine Rückkehr der Nachbarschaftspolizisten. In einem Interview mit der Zeitung „Le Monde“ zeigte sich Sarkozy aber wenig nachgiebig. Angesichts der Krawalle gebe es für die Polizei derzeit nur eine vorrangige Aufgabe, sagte er: „Kriminelle festzunehmen“.

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