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Westerwelle-Nachfolge: Liberale Geisterstunden

Ein neues Team muss her und ein neuer Kurs auch. Am Tag nach Guido Westerwelles Abdankung debattiert die FDP über ihre Zukunft. Aber seltsam: Die entscheidende Frage wagt niemand auszusprechen: Wer wird denn jetzt der neue Chef?

Von
  • Robert Birnbaum
  • Antje Sirleschtov

Nach zwei Stunden hält es Heinrich Kolb einfach nicht mehr aus. Kolb, muss man wissen, ist ein stiller Mensch, der ganz überwiegend deshalb im FDP-Präsidium sitzt, weil dort auch ein Vertreter der Fraktion sein muss; ein Sozialpolitiker, der keinen Drang ins Fernsehen in sich verspürt und keinen nach Macht. Kolb hat diese zwei Stunden im dritten Stock des Thomas-Dehler-Hauses gesessen, mehr oder weniger den Vorträgen der Großen am runden Tisch zugehört und nebenbei, so wie alle anderen übrigens auch, auf seinem Smartphone die aktuellen Nachrichten verfolgt. Dabei ist ihm etwas sehr Irritierendes aufgefallen. Die Nachrichten da draußen über das, was hier drinnen angeblich geschieht, haben mit dem hier drinnen nichts zu tun. In der Welt des Internets und der Radionachrichten steht zum Beispiel praktisch fest, wie der nächste FDP-Vorsitzende heißt. Hier drinnen nicht. Kolb meldet sich zu Wort. „Sollten wir nicht langsam auch über Personal sprechen?“

Um es vorwegzunehmen: Sie haben nicht über Personal gesprochen, keinen einzigen Satz. Keiner hat aufgezeigt und gesagt: Ich will Parteichef werden. Keiner hat sich gemeldet und gesagt: Ich finde, dieser oder jene muss ihr Amt auch noch abgeben. Nein, die engere FDP-Führung hat sich um den runden Tisch herum gegenseitig in die Augen geguckt und anhand einer straffen Tagesordnung über die letzten Wahlen (kurz) sowie über künftige Schwerpunkte in der Bildungs-, Europa- und Energiepolitik geredet. „Es war wie immer“, sagt ein Teilnehmer. Nur dass am Anfang einer Blumen überreicht bekam, weil er am Ende ist, und dass mit ihm 17 Jahre FDP zu Ende gehen und dass sie eigentlich sehr viel zu besprechen hätten, zum Beispiel, wie es jetzt bloß weitergehen soll.

Die Blumen hat Silvana Koch-Mehrin für Guido Westerwelle mitgebracht. Für den FDP-Vorsitzenden ist es die letzte Sitzung, die er quasi noch in altem Amt und Würden leitet. Am Sonntagnachmittag hat Westerwelle seinen Verzicht erklärt, jetzt erklärt er den Parteifreunden noch mal, dass und warum. Die Begründung unterscheidet sich nicht nennenswert von den Sätzen, die die Präsidiumsmitglieder schon in den Morgenzeitungen gelesen haben: dass ein Generationenwechsel anstehe, dem er nicht im Wege sein wolle. Das ist zwar nicht die Wahrheit, aber die Wahrheit kennt eh jeder.

Die FDP hat sich in zwei Jahren schwarz-gelber Koalition unter der Führung von Guido Westerwelle von der kleinen Volkspartei zum parlamentarischen Überlebenskämpfer zurückentwickelt, ein quälender Prozess, der bei den vergangenen Landtagswahlen im jähen Absturz endete. Westerwelle muss weg, weil in diesem Raum keiner mehr daran glaubt, dass es mit ihm noch einmal bergauf gehen kann. Aber weil das alles jeder weiß, muss es ja nicht auch noch extra ausgesprochen werden. In politischen Spitzengremien, berichten alle, die daran regelmäßig teilnehmen, wird sowieso das Offensichtliche nur ausnahmsweise ausgesprochen. Man muss sich solche Sitzungen generell eher politbüroartig vorstellen. Was für diese Sitzung ganz besonders gilt.

Ob es bei der für Guido Westerwelles Schicksal wahrscheinlich entscheidenden Beratung ähnlich gespenstisch zuging, ist nicht überliefert. Sie fand am Sonntag in seiner Wohnung statt, Mommsenstraße, Dachgeschoss. Da sind in besseren Zeiten schon Bundespräsidenten gemacht worden. Jetzt regelt Generalsekretär Christian Lindner mit seinem Noch-Chef dessen Abgang. Lindner wird später versichern, Westerwelle sei vorher schon entschieden gewesen, sein Parteiamt zur Verfügung zu stellen.

Das kann man glauben oder vielleicht lieber nicht. Es ist nämlich ungewöhnlich, dass Lindner über eine derart vertrauliche Begegnung tags darauf in der Pressekonferenz in aller Offenheit berichtet. Man erfährt bei der Gelegenheit auch, dass Daniel Bahr später zu den beiden hinzugestoßen ist. Bahr verfügt als FDP-Chef in Nordrhein-Westfalen über eine große Hausmacht und als Staatssekretär im Gesundheitsministerium über einen sehr, sehr engen Draht zu seinem Minister Philipp Rösler. Der ist der Dritte im Bunde, telefonisch zugeschaltet aus Hannover. Das Trio hat schon seit Tagen versucht, die Dinge in der FDP in die Hand zu nehmen. Sie haben darauf hingearbeitet, dass Westerwelle geht; sie haben zugleich daran gearbeitet, dass es bloß nicht so aussieht, als hätten sie ihn gestürzt. Dies sei eine „souveräne Entscheidung“ des Vorsitzenden gewesen, versichert Lindner am Montag mehrmals.

Dahinter steckt eine alte Tradition bei der FDP. Als Westerwelle seinerzeit Wolfgang Gerhardt gestürzt hat, hat es auch hinterher so aussehen sollen, als habe Gerhard ein Einsehen gehabt. Damals war jedermann klar, wer der Nachfolger sein würde. Diesmal ist es eigentlich auch klar. Sonst hätte Rösler nicht am Sonntag extra zum Telefon greifen müssen. Aber der Niedersachse, mit seinen 38 Jahren der Älteste und politisch Erfahrendste im Trio, meldet am Montag seinen Anspruch noch nicht an. In der Präsidiumssitzung ergreift er bloß hier und da das Wort, so wie andere auch, weder als Erster noch als Letzter. Nur dass er hinterher, im Hinausgehen, im vertraulichen Gespräch mit Rainer Brüderle zu sehen ist, deutet darauf hin, dass hier einer künftig einiges zu regeln haben dürfte.

Auch diese Formulierung hat Tradition in der FDP. Guido Westerwelle hat damit im Machtkampf mit Jürgen Möllemann den innerparteilichen Gegner erledigt: „Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt’s einen, der die Sache regelt – und das bin ich!“ Lindner erinnert an die Szene. „In der FDP waren ja früher mal maritime Metaphern hoch geschätzt: Auf jedem Schiff …“ – eine elegante Handbewegung, ein leicht spöttisches Grinsen. Früher. „Die FDP wird zukünftig im Team geführt werden“, hatte er kurz davor gesagt. Die Ära des Alleindarstellers, heißt das, ist vorbei. Das ist nicht nett gegenüber dem scheidenden Vormann.

Es heißt aber noch etwas anderes: In der FDP sieht sich im Moment keiner in der Lage, das Kommando alleine zu übernehmen. „Es geht auf einem Regattaboot auch um den Vorschoter“, fährt Lindner denn auch in seiner Marinemalerei fort, und dass man eine ganze Mannschaft brauche, die sich im richtigen Moment nach draußen lehne, um das Boot aus schwierigem Fahrwasser wieder hoch an den Wind zurückzubringen.

An dem Bild ist zumindest so viel richtig, dass das Boot in sehr schwierigem Fahrwasser dümpelt. Außerdem haben aber gewichtige Teile der Mannschaft ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Kurs und der optimalen Aufgabenverteilung an Deck. Rainer Brüderle zum Beispiel findet, dass er als erster Offizier in Wirtschaftsfragen unersetzlich sei. Er hat das in der Sitzung noch einmal alle wissen lassen: Die Partei dürfe nicht „grüner werden als die Grünen und schon gar nicht roter als die Roten“.

Das galt Lindner, der sich vorige Woche mit dem Ruf nach Schnellabschaltung von acht Atomreaktoren an die Spitze der neobürgerlichen Anti-Atom- Bewegung gesetzt hatte. Brüderle hat vor einem halben Jahr großen Anteil daran gehabt, dass die Regierung die Atomlaufzeiten deutlich verlängert hat. Wenn es nach ihm ginge und nach den Leuten, mit denen er gern mal ein Weinchen trinkt, wäre das immer noch der richtige Weg. Brüderle steht gewissermaßen für die treuen 4,2 Prozent, die die FDP in seinem Heimatland Rheinland-Pfalz trotz allem gewählt haben.

Sein Problem ist nur, dass Rösler dringend einen neuen Job braucht. Als Gesundheitsminister muss er lauter Sachen machen, die das liberale Profil nicht direkt stärken – um es mit Brüderles eigener Farbenlehre zu sagen: Es ist eher ein sozial orientiertes, vulgo rotes Ressort. Das verträgt sich nicht mit einem FDP-Chef und nicht so richtig mit dem Vizekanzlerposten, den Westerwelle ebenfalls abtritt. Die Auswahl im Kabinett für den künftigen Parteichef ist nicht groß. Rainer Brüderle sitzt auf dem einen Posten, der infrage kommt. Guido Westerwelle sitzt auf dem anderen. Dort wenigstens will er bleiben. Das Präsidium hat ihm das einstimmig gegönnt.

In dieser ungeklärten Personalie liegt einer der Gründe für die Gespenstersitzung der FDP-Oberen: Es ist da noch viel zu viel offen. Einiges davon wird sogar in der Sitzung geklärt, allerdings nicht auf dem Tisch, sondern darunter. Es herrscht nämlich während der offiziösen Fensterreden reger SMS-Verkehr im Präsidiumszimmer. Manchmal, erzählen Leute, die dabei waren, hat man an wissenden Blicken und halbem Nicken erkennen können, wer da gerade wem eine dringende Mitteilung geschickt hat. Trotzdem scheint der kleine Funkverkehr nicht alle Fragen gelöst zu haben. Für diese Vermutung spricht beispielsweise, dass Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihre Partei am Nachmittag vor Grabenkämpfen warnt: „Die FDP ist in einer wirklich schweren Krise“, sagt die Justizministerin.

Die Zeit drängt. Am Dienstag soll das Personaltableau im großen Kreis von Präsidium, Vorstand, Fraktion und Landeschefs vorgestellt und abgesegnet werden. Unvorstellbar, dass diese gute Hundertschaft basisdemokratisch mit verschiedenen Modellen konfrontiert wird. Wenn Lindner nicht ein sehr unverfrorener Schauspieler ist, wissen er und seine Mitverschwörer, was sie wollen. „Ich ahne einfach, dass da morgen was passiert“, schmunzelt der General. „Man schnappt so dies und das auf ...“

Dann passiert es also. Dann wird die FDP einen neuen designierten Vorsitzenden haben und vielleicht noch die eine oder die andere Neuerung. Nur dass sie damit ihr Problem los ist, das glaubt niemand. Dafür sitzt es zu tief.

Das wird kurioserweise jetzt besonders deutlich, wo passiert ist, was eigentlich seit einem halben Jahr die meisten für unumgänglich erklärt haben. Die FDP hat mit Westerwelle keinen Neuanfang mehr geschafft, weil Westerwelle sich selbst nicht mehr neu erfinden konnte. Nun ist er halb weg, und die FDP bekommt eine Ahnung davon, wie schwer es sein wird, sich sogar ohne den Mann neu zu erfinden, der mit 49 Jahren bereits zum alten Eisen zählt. „Guido Westerwelle hat in Koalitionsrunden mit Helmut Kohl schon gesessen“, sagt Lindner, was schon wieder nicht nett ist gegenüber dem Abgedankten.

Aber Revolutionen sind selten nett. Im Präsidium hat sich Cornelia Pieper kurz über den Stil beschwert, in dem in der letzten Woche Parteifreunde über andere Parteifreunde öffentlich hergezogen sind. „Das ist ganz und gar inakzeptabel gewesen“, hat Pieper gesagt.

Alle anderen haben betreten auf den Tisch vor sich geguckt, aber nicht wegen schlechten Gewissens, sondern weil ausgerechnet Conny Pieper eineinhalb Wochen gebraucht hat, um aus der krachenden Wahlniederlage ihres eigenen, des sachsen-anhaltinischen Landesverbandes irgendeine Konsequenz zu ziehen. Pieper hat den Landesvorsitz abgegeben und will auch nicht mehr als Parteivize kandidieren. Sie ist dann nur noch Staatsministerin für auswärtige Kulturfragen im Hause Westerwelle.

Der hat sich übrigens an diesem sonderbaren Tag auch zu Wort gemeldet. Aber nur strikt außenministeriell, mit einem Appell an China, den Dissidenten Ai Weiwei freizulassen, „dringend“ und „umgehend“. Noch durch die diplomatische Note dröhnt ein Nachhall von der Kommandobrücke, die er verlässt. Die FDP hat keinen Kapitän mehr, aber noch keinen Steuermann, geschweige einen Kurs. „Die Frage ist gelöst“, sagt einer aus der Union, der die Dinge beim Koalitionspartner mit gewisser Sorge verfolgt, „aber das Problem ist noch da.“

Mitarbeit: Stephan Haselberger und Hans Monath

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