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Nach zwanzig Jahren wurde die Sache etwas entspannter betrachtet - beim Fest der Post zum Jubiläum der fünfstelligen Postleitzahlen.

© dpa

Pegida, "Tatort" und Globalisierung: Die Sehnsucht der Deutschen nach Halt und Dauer

Nervosität statt Neugier. Was Pegida, den „Tatort“-Kult und Schreibschriftbewahrungsvereine verbindet: Sie alle zeugen von Fremdheitserfahrungen, der Sehnsucht nach Halt und Beständigkeit. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Tränen flossen. Bürger protestierten. Identitätsgefühle wurden verletzt. Als Anfang Juli 1993 die fünfstelligen Postleitzahlen eingeführt wurden, war in der Republik die wilde Wutz los. In der „Stuttgarter Zeitung“ hieß es erregt: „Neben der Schuhgröße, dem Autokennzeichen, der Geheimzahl für den Bankautomaten, dem eigenen Hochzeitstag, dem Geburtsdatum von Frau und Kindern, dem Code für das Zahlenschloss am Aktenkoffer und der vorsichtigerweise nirgends notierten Telefonnummer einer entfernten Bekannten sollen wir uns jetzt auch noch neue Postleitzahlen merken. Fünfstellige zumal.“ Das war nicht ironisch gemeint, sondern bitterernst.

Kulturverlust! Die Geselligkeit dahin! Die Tugenden eines aseptischen Amerikas ziehen in Deutschland ein! Das waren die Parolen, die zehn Jahre später gegen die neuen Rauchverbote in Stellung gebracht wurden. Wieder tobte ein Kulturkampf. Im „Tagesspiegel“ schrieb Hellmuth Karasek: „New York ist wie Hongkong. Fast. Oder wie Singapur. Jene Musterstädte, die uns Zukunftsschauer über den Rücken jagen – wie wir unsere Welt sauber, gesund und sicher machen –, das aber mit einer Polizei und mit Gesetzen, die uns rigoros zu Sauberkeit, Disziplin und Ordnung bringen. So als lebten wir in einem Orwell’schen Zukunftsstaat.“

Es gibt viele solcher Debatten, die im Nachhinein hyperventilierend klingen. Wie konnte so wenig Veränderung einen solchen Furor entfachen? Diese empörten Ausrufe von „Niemals“, „Skandal“, „Verderbnis“. Und selbst wenn die gesellschaftlichen Entwicklungen gravierender waren – wie bei der Einführung des Privatfernsehens, der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten, der deutschen Einheit –, lesen sich viele Diskussionsbeiträge heute, im großen zeitlichen Abstand, als sei es stets um Krieg und Frieden gegangen, den Untergang des Abendlandes, die Rettung der Menschheit. Dem modernen, säkularen Menschen ist offenbar eines abhandengekommen – die Gelassenheit im Umgang mit Veränderungen.

Jedem ist doch klar, dass Kulturtechniken zeitgebunden sind

Das zeigt sich bis heute. Als Finnland unlängst beschloss, die Schreibschrift abzuschaffen, stand halb Deutschland Kopf. Eine Kulturtechnik werde aufgegeben, Sprachkompetenzen würden eingebüßt, ein Stück Individualismus der Maschine geopfert, dem Computer. Dabei ist jedem klar, dass Kulturtechniken zeitgebunden sind. Keiner meißelt seine Texte mehr in Steine oder kratzt sie mit Gänsekielen auf Pergament. Wer Kinder auf die Zukunft vorbereiten will, kennt zumindest zwei Trends: Digitalisierung und Globalisierung. In dieser Welt werden es folglich unflexible Tastatur-Legastheniker, die kein Englisch sprechen, ziemlich schwer haben. Was also spricht dagegen, die Curricula entsprechend anzupassen?

Wenn die Nervosität, mit der auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert wird, stärker ausgeprägt ist als die Neugier auf diese, dann deutet das auf ein hohes Maß an ohnehin vorhandener Verunsicherung hin. Hartmut Rosa, der in Jena Soziologie unterrichtet, bezeichnet das als ausgeprägte Fremdheitserfahrung, das „Gefühl des in dieser Welt nicht mehr zu Hause Seins“. Konservative sagen von sich selbst, es gehe ihnen nicht darum, im Gestern zu leben, sondern an dem festzuhalten, was immer gilt. Was aber gilt immer? Durch Emanzipation und Selbstbestimmungsrechte haben sich viele Normen im kulturell-familiären Bereich erheblich verändert. Selbst auf die Frage, wann Leben beginnt und endet, gibt es keine eindeutigen Antworten mehr.

Als Folge auch daraus entstehen populistische Bewegungen, die vor allem Klarheit und ein festes Feindbild versprechen. Ob die britische Ukip, der französische Front National, die schweizerische SVP oder Pegida und AfD: Fast überall gewinnen politische Kräfte an Boden, die sich die Fremdheitserfahrung vieler Wähler zunutze machen. Was dem einen Rauchverbote und eine bedrohte Schreibschrift, sind dem anderen verschleierte Frauen und Minarette. Außerhalb Europas gibt es ähnliche Phänomene bei der Tea Party, dem Islamismus, Putinismus und Erdoganismus.

Weil indes ein Bernd Lucke in Bezug auf Charisma weder mit Putin noch mit Erdogan mithalten kann, muss die Sehnsucht nach Stabilität in Deutschland kompensiert werden. Etwa durch Schreibschriftbewahrungsvereine oder den „Tatort“-Kult, der dem Wochenende zum Abschluss verhelfen soll, eine imaginäre Einheit stiftet und einen Kommunikationsraum öffnet. Vorbereitet, nachbereitet, aufbereitet. Ein Fels in der Brandung, ohne den alles nichts wäre. Ein Halt für Haltlose.

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