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Politik: Wie ein offenes Buch

Von Gerd Appenzeller

Wann wird Zeitgeschichte zu Vergangenheit? Wohl dann, wenn das Geschehen von damals auf das Heute keine Wirkungen mehr hat, wenn wir die Einflüsse der Ereignisse jener Zeit nicht mehr als auch die Gegenwart bestimmend empfinden.

Wenn wir darüber nachdenken, spüren wir, wie weit Zeitgeschichte zurückreicht. Der Erste Weltkrieg ist für viele Menschen Zeitgeschichte, obwohl seitdem fast 100 Jahre vergingen – die Gräberfelder Flanderns erinnern uns daran wie die Erzählungen der Alten. Erst recht sind weder die Nazi-Herrschaft noch der Zweite Weltkrieg und die Judenverfolgung auf jenen Seiten des Geschichtsbuches verzeichnet, in denen niemand mehr blättert. Und auch wenn der Letzte gestorben ist, der sich noch selbst daran erinnert, wird das alles noch lange nicht Vergangenheit sein. Der 9. November steht dafür als Erinnerungsmarke.

Das gilt für Berlin in ganz besonderem Maße. Hier wird heute an die NS-Pogrome des Jahres 1938 genauso erinnert wie an den 9. November 1989, den Tag, an dem die Mauer geöffnet wurde. In dieser Stadt, die eben die Stadt der Täter und der Opfer war, werden die Trauer über den einen wie die Freude über den anderen Gedenktag besonders intensiv empfunden. Berlin, das ist die Stadt der Wannseekonferenz und der Luftbrücke, Berlin war Sitz des NS-Terrorregimes und Platz des Widerstandes dagegen, Berlin hatte die größte jüdische Gemeinde Deutschlands und ist deshalb bis heute vom Holocaust tief gezeichnet. In Berlin regierte die SED, und in Berlin manifestierte sich der Volkszorn des 17. Juni 1953 gegen dieses Regime am nachdrücklichsten. Wie sehr in Berlin Zeitgeschichte und Gegenwart ständig ineinander verzahnt sind, zeigen nicht zuletzt die aktuelle Debatte über das Stasiunterlagengesetz und die Absicht der rechtsextremen NPD, ausgerechnet hier ihren Bundesparteitag abzuhalten.

In den letzten Tagen noch hingen in Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns die NPD-Plakate aus dem Landtagswahlkampf. „Ausländer raus – Touristen willkommen“ konnte man auf ihnen lesen. Braune Propaganda in einem Land, in dem es viele Ferienreisende aus aller Welt, aber kaum dort lebende Ausländer gibt. Das Feindbild ist kaum anders als jenes, das die NSDAP in die Köpfe trommelte – hier der gute Deutsche, dort die minderwertigen anderen Rassen. Es wäre eine Schande, wenn sich nicht gerade in Berlin ein umfassendes Bündnis gegen einen Parteitag der NPD ausgerechnet in dieser Stadt bilden würde.

60 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur wird über diese Zeit und wer warum und wie verwickelt war, intensiv diskutiert. Immer wieder gibt es aktuelle Anlässe, zuletzt war es Günter Grass. Heute wird man auch in München daran denken, wenn 68 Jahre nach der Zerstörung der einstigen Hauptsynagoge ein neues jüdisches Gotteshaus eröffnet wird.

Über die SED-Diktatur reden vorwiegend deren Opfer. Die Täter, sagen uns sachverständige Mitbürger, seien weitgehend bekannt, große Überraschungen aus den Stasiunterlagen nicht mehr zu gewärtigen. Das mag sein. Freilich wissen wir auch, dass es auf dem Gebiet der früheren DDR Anwälte gibt, die sich auf die Betreuung haupt- und nebenamtlicher ehemaliger Stasimitarbeiter spezialisiert haben. Auch das gehört zum Rechtsstaat – dass es Menschen gibt, die ihn mit den eigenen Waffen schlagen wollen. Aber es zeigt uns auch, dass es 17 Jahre nach dem Fall der Mauer noch viel zu früh ist, diese Ära zur Geschichte zu erklären.

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