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Unter Stammesfürsten: Wie leben die Menschen in Afghanistan?

Zwei afghanische Frauen berichten von der Lebenswirklichkeit am Hindukusch. Sie schreiben über ihre Erfahrungen, ihre Ängste - und ihre Hoffnungen.

Weißt du, was du da sagst? Nach Kabul zu gehen, ist für eine junge Frau in dieser Situation, wie sich in einen Fluss zu stürzen, wissend, dass du nicht schwimmen kannst. Und was bedeuten schon Frauenrechte in einer Zeit, in der jedermann ums Überleben kämpft. Auch Leute, die sehr viel mächtiger sind als du, könnten da nichts tun.“ Das waren die Worte meiner Mutter, als ich ihr erzählte, dass ich für immer nach Afghanistan zurückkehren will, um zumindest einen Ort zu haben, an den ich gehöre.

Ungeachtet des Widerstands in meiner Familie und der wütenden Sorge meiner Mutter bin ich nach Afghanistan zurückgekehrt. Eine meiner ersten Reisen ging in die Berge nach Badakhshan, eine Provinz, in der Frauen die meiste Zeit ihres Lebens auf den Straßen verbringen, die fast acht Monate im Jahr durch Schnee oder Überschwemmungen blockiert sind. Es ist eine der Provinzen mit der höchsten Müttersterblichkeitsrate, weil schwangere Frauen es wegen der schlechten Straßen nicht ins Krankenhaus schaffen und es ohnehin zu wenige davon gibt.

Das war im Juni 2002 direkt nach dem Sturz der Taliban-Regierung. Die Menschen hatten Angst vor einer Rückkehr der Taliban, schauten aber hoffnungsvoll in ihre Zukunft. Als ich in Badakhshan ankam, war mein erster Auftrag, ein Frauenförderungszentrum in der Mitte der Provinz zu gründen. Zusammen mit meinen Kollegen habe ich ein Treffen der ältesten Frauen im Haus eines Gemeindevorsitzenden abgehalten. Ich habe das Vorhaben des Zentrums erklärt und wie es den Frauen von Badakhshan helfen würde, lesen und schreiben zu lernen. Außerdem könne das Zentrum ihnen helfen, sich häufiger zu treffen und sich besser zu vernetzen. In den gesamten zwei Stunden war ich die einzige unter den rund 70 Frauen aus Badakhshan, die sprach. Ich konnte spüren, dass die Stille etwas bedeutete.

Später am selben Tag wurden wir informiert, dass der Mullah in der Moschee bereits verkündet hatte, dass eine fehlgeleitete Frau in der Gegend sei, um die einheimischen Frauen ebenfalls fehlzuleiten. Man solle an der Frau ein Exempel statuieren, so dass ihr niemand folgen werde. An diesem Tag betrat ich erstmals eine Moschee voller Männer, die bereit waren, mich in Stücke zu reißen.

Im November 2011 fand die traditionelle Loya Jirga in Kabul statt, um über eine strategische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und die Zukunft des Friedensprozesses zu entscheiden. Dies war eine der größten Zusammenkünfte der Afghanen in den vergangenen zehn Jahren. Zur Jirga trafen sich rund 2100 Afghanen, die meisten waren Älteste und Stammesführer aus dem ganzen Land. In meinem Komitee war ich alleine mit 55 Männern, mit Stammesführern, religiösen Führern, Regierenden, Parlamentsmitgliedern und Senatoren aus vielen Landesprovinzen. Das bedeutete am ersten Tag der Jirga, dass niemand überhaupt Notiz davon nahm, dass ich eine Frau war: Jeder, der den Raum betrat, begrüßte die Anwesenden mit „Assalam u Aleikum, Brüder“, und niemand erwähnte die Schwester unter ihnen. Aber die Situation veränderte sich dramatisch, als ich anfing, die Unterschiede zwischen einer Erklärung, einem Vertrag und einer Übereinkunft im internationalen Recht zu erklären. Sie hatten keine wirkliche Vorstellung von diesen Begriffen und warum es so wichtig ist für Afghanistan, eine rechtlich bindende strategische Partnerschaft mit den USA oder anderen westlichen Staaten einzugehen, damit Afghanistan nicht seinen unfairen Nachbarn ausgeliefert ist. Jeder Mann in diesem Komitee begann mit mir zu sprechen, erklärte die Situation in seiner Provinz, erklärte, warum Korruption die Türen zur Bildung für Kinder zuschlägt, wie die Selbstmordattentate die Frauen davon abhalten, Kliniken zu besuchen, und wie sehr Frauen und Kinder durch nächtliche Überfälle verunsichert sind. Am zweiten Tag betraten die Männer den Raum und grüßten ihre Brüder „und die geschätzte Schwester“.

Sie respektierten mich ab dem Moment, in dem sie verstanden, dass ich Verbesserungen für ihr Land und sie selbst erreichen kann. Als wir die Debatte über den Friedensprozess begannen, sagte der erste Redner, dass kein Abkommen die Ausbildung der Töchter stören solle, denn „wir wollen sie so stark und einflussreich sehen wie unsere Schwester hier“. Viele der Senatoren und Parlamentsmitglieder in meinem Komitee sagten danach, sie wollten mich der Regierung empfehlen, damit ich Afghanistans Repräsentantin bei den Vereinten Nationen werden kann, um so für Afghanistans Interessen in der internationalen Gemeinschaft einzutreten.

Afghanische Frauen haben in den vergangenen Jahren gekämpft und Ziele erreicht, für die viele andere Länder viele Jahrzehnte gebraucht haben. Spielten Afghanistans Frauen im Jahr 2001 öffentlich noch überhaupt keine Rolle, sind sie heute in der Regierung, im Parlament, in Schulen, Krankenhäusern, Basaren und sogar in Moscheen vertreten. Trotzdem schauen wir besorgt in die Zukunft. Eine Zukunft, die daran gebunden ist, wie unsere afghanische Regierung und ihre Verbündeten ihre Versprechen und Vereinbarungen halten. Oder ob sie unsere Errungenschaften verkaufen und zu viele Kompromisse im Namen der Politik machen.

Die Autorin engagiert sich bereits ihr gesamtes Leben für Frauenrechte. Seit 2001 hat Wazhma Frogh mit mehr als 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen in ganz Afghanistan an der Entwicklung von Menschenrechten gearbeitet, speziell an Projekten für Frauen und Mädchen. 2009 erhielt sie den „International Woman of Courage Award“ der USA. Sie promoviert an der Universität von Warwick in Großbritannien.

Wazhma Frogh, Amena

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