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Willy Brandt und die Familie: Nie sahen ihn seine Söhne weinen

Willy Brandt bemühte sich, ein guter Vater zu sein. Doch ein Familienmensch war er nicht. Er tat sich schwer mit Emotionen und floh in die Geschichte.

Willy Brandt fiel es schwer, in der Familie Halt und Geborgenheit zu finden. Eher war er in der ganzen Welt zu Hause, in der Geschichte und seiner Partei. Einer wie er fand vor Hunderttausenden die richtigen Worte und gab der Masse das Gefühl, ihr nahe zu sein, sie zu verstehen. Doch im familiären Kreis blieb der Übervater der SPD oft genug ein unsichtbarer Vater, der sich in sich selbst zurückzog. Privat litt er darunter, nicht die richtigen Worte und Gesten zu finden, denn seine Kindheit und Jugend hatten ihm eine soziale Bindegewebsschwäche beschert, ein Unvermögen, sich emotional mitzuteilen und zu öffnen. Wo hätte er diese familiäre Sprache auch lernen sollen?

Willy Brandt wächst als uneheliches Kind überwiegend bei seinem Großvater auf. Seinen leiblichen Vater lernt Brandt nie kennen, und er glaubt lange Zeit, sein Stiefgroßvater Ludwig Frahm, den er „Papa“ nennt, sei sein Vater. Doch der geliebte Mann, der bis dahin seine wichtigste familiäre Instanz war, begeht 1935 aus Verzweiflung Selbstmord. Da lebt Willy Brandt schon im norwegischen Exil und hat sich auf der Flucht vor den Nazis eine eigene Identität gegeben. Am 11. März 1933 nennt sich der junge Mann, der bis dahin auf den Namen Herbert Frahm hörte, Willy Brandt.

Dieser Tarn- und Kampfname entwickelt ein eigenes Gewicht, ein eigenes Schicksal, denn er bietet dem jungen Mann die Chance, sich selbst aus der Taufe zu heben und das alte, ungeliebte Ich zu verabschieden. Willy Brandt hat in seinen Biografien später oft betont, wie fremd ihm dieser Herbert Frahm geworden sei. Seither hatte Willy Brandt mit dieser Abspaltung zu leben, ein Riss geht durch seine Persönlichkeit, und Brandt fragte sich, ob er zum Ehemann, Familienmenschen und Vater überhaupt tauge? Willy Brandt kam, wie er selbst schrieb, aus dem „familiären Chaos“ und fand seine Heimat früh in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Und als seine erste Ehe mit der Norwegerin Carlota Thorkildssen, aus der seine Tochter Ninja (1940*) hervorgeht, nach wenigen Jahren scheitert, bestärkt diese Erfahrung Brandt darin, wohl kein Familienmensch zu sein. Seine zweite Ehe mit Rut Hansen verwitwete Bergaust, die 1948 geschlossen wird, ist daher ein Wagnis, eine echte Herausforderung.

Als er 1947 nach Deutschland zurückkehrt und seine erste Frau Carlota und ihre Tochter Ninja verlässt, schreibt er anrührende Briefe an das siebenjährige Mädchen, um ihr nahe zu sein und zu erklären, warum er sich in der Politik engagiert. Am 4. Dezember 1947 berichtet er aus Berlin: „Vielleicht hat Mama schon erzählt, dass ich in einigen Wochen eine neue Arbeit anfangen werde. Ich bin ja, wie Du weißt, in Deutschland aufgewachsen. Später habe ich in Norwegen gewohnt. Ich musste nach Norwegen fliehen, weil die, die damals in Deutschland regiert haben, dieselben schrecklichen Leute waren, die später auch Soldaten nach Norwegen geschickt haben. Jetzt aber gibt es andere Menschen, die Deutschland wieder aufbauen wollen und dafür sorgen werden, dass das Land nie wieder etwas Falsches gegen andere Länder unternimmt. Und ich finde, dass ich dabei helfen muss, auch wenn ich Norwegen sehr, sehr lieb habe. Es ist aber so, wie mir neulich einer meiner Freunde aus der Schweiz geschrieben hat: Ich muss jetzt für dasjenige von meinen beiden Vaterländern arbeiten, das es schwer hat und meine Hilfe braucht. Eine große Umarmung von Deinem Papa.“

Willy Brandt konnte sich nicht in die Familie retten

Bundeskanzler Willy Brandt (r) mit Ehefrau Rut (l) und Sohn Matthias (M) in den Sommerferien in Norwegen. Aufnahme vom 19. Juli 1972.
Bundeskanzler Willy Brandt (r) mit Ehefrau Rut (l) und Sohn Matthias (M) in den Sommerferien in Norwegen. Aufnahme vom 19. Juli 1972.

© Horst Ossinge, dpa

Willy Brandt bemühte sich, ein guter Vater zu sein, er nahm sich die kleine Zeit, wenn die große Zeit ihn ließ. Er las den Söhnen Märchen vor, warf an Silvester Böller, mit Lars ging er angeln. Ein Rabenvater ist Brandt für seine vier Kinder Ninja, Peter, Lars und Matthias sicher nicht gewesen, aber ein gehandicapter, ein schwer zu fassender Vater. Und es war eine andere Zeit. Wie selbstverständlich flog der Regierende Bürgermeister 1961 in die USA, obwohl seiner Frau eine schwere Geburt bevorstand. Rut litt sehr, aber sie trug es. Väter waren noch keine Kreissaalgefährten und Windelwickler.

Spricht man mit Peter, Lars und Matthias Brandt, stellt man bald fest, dass jeder von ihnen einen anderen Vater erlebt hat und eine eigene Beziehung zu ihm aufbaute. Während die älteren Brüder Peter (1948*) und Lars (1951*) in Berlin noch die Ansätze eines „normalen“ Familienlebens erfahren, wird Matthias (1961*) in Bonn schon von Leibwächtern zur Schule begleitet. Mitunter hat das Nesthäkchen das Gefühl, dieser Mann sei ein „Opa“ und bedürfe, etwa beim Spielen, seiner kindlichen Hilfe, denn in solchen Dingen ist der amtierende Bundeskanzler vollkommen hilflos. Wie bloß baut man ein Modellflugzeug zusammen? In solchen Momenten konnte Brandt in eine totale Lähmung versinken, aus der ihn der Sohn mit aufmunternden Worten und kindlichem Trost herauszuholen versuchte.

Willy Brandt gehörte zur Generation der unnahbaren Väter, die von den Erfahrungen im Krieg und im Exil existenziell so geprägt worden waren, dass ihre Kinder in ihnen intuitiv eingeschränkte Persönlichkeiten sahen und von ihnen kein gesteigertes Interesse an ihrem eigenen Leben erwarteten.

Auch die Frauen an seiner Seite warteten häufig umsonst auf das lösende Wort. Klarheit in Liebesdingen? Konstruktiver Streit? Rut Brandt scherzte einmal verzweifelt, sie werde eines Tages eine Tränengasbombe werfen, um ihrem Mann Gefühle abzuluchsen. Man hat Willy Brandt viele Geliebte angedichtet, die meisten von ihnen entsprangen blühender Männerfantasie. Zwar übte Brandt eine große Anziehungskraft auf Frauen aus, aber es war gerade seine emotionale Verlorenheit und sein unbeholfenes, passives Bedürfnis nach Nähe, das ihm die Sympathien zuspielte. Seine treueste Geliebte, seine Seelennotschwester und lebenslange Kameradin war die weiße Dame, die Zigarette. Nein, privat flossen die Gefühle spärlich, seine Söhne sahen ihn nie weinen. Tränen füllten seine Augen hingegen, wenn die Geschichte sprach. Als die Alliierten in der Normandie landeten, als er 1970 im Sonderzug nach Erfurt fuhr, als 1989 die Mauer fiel. Da wagte er Gefühl, da vermählte er inneres Empfinden mit kollektiven Gefühlen. In diesen Momenten war Brandt ganz bei sich und ganz außer sich.

In seinem letzten Erinnerungsbuch fehlt die Familie völlig. Warum? Undankbarkeit? Kälte? Kaum! Ein Mann wie Willy Brandt konnte sich nicht in die Familie retten, deshalb musste er in die Geschichte fliehen. Die, die ihm dahin nicht folgen wollten, musste das verletzen. Mit all seinen Selbstzweifeln und beschädigten Gefühlen suchte und fand er Bestimmung und Statur im staatsmännischen Selbstbild, das er im letzten Lebensbuch entwirft.

Die Historie nahm ihn bereitwillig auf, hier blieb er kein Flüchtling, hier fand er Geborgenheit und spendete sie anderen, die ihn nur aus der Ferne her kannten. Ein Familienmensch ist Brandt nicht gewesen, aber ohne Familie ist kein Mensch. Und als er in seinem Haus in Unkel starb, fanden sich Worte, Tränen und Gesten, um seinen Kindern „Lebewohl“ zu sagen.

Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt, erscheint am 22. August im FischerVerlag und kostet 22,99 Euro, die Buchpremiere findet am 26. September im Renaissance-Theater statt und wird von Anne Will moderiert.

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